Frage: Am 16. Juni ist der G-BA-Beschluss zur Psychotherapie-Richtlinie herausgebracht worden. Ausgangspunkt für die Gesetzesänderung sind die langen Wartezeiten für Patienten, eine vielfach beklagte Unterversorgung mancher Patientengruppen und eine verbesserte Erreichbarkeit der Psychotherapeuten. Deckt sich aus Ihrer Sicht das Ergebnis des G-BA mit der Intension des Gesetzgebers?
Jürgen Matzat: Für die Einrichtung der Sprechstunde würde ich das bejahen. Wir als Patientenvertretung haben uns dafür ganz besonders engagiert. Sinn und Zweck ist es, dass Patienten, die noch nie im System waren und sich nicht auskennen, sehr schnell mit einer Fachperson über die empfundenen Beschwerden reden können. Wir sind hier noch vor der Diagnosestellung. Es geht um das Betrachten von Beschwerden. Ich vergleiche das immer mit dem Besuch beim Hausarzt, wo es in erster Linie darum geht, ob meine Beschwerden überhaupt krankheitswertig sind. Wenn ja, welche Krankheit ist es, und was soll jetzt passieren? Ist die Behandlung dringend geboten oder kann man noch abwarten? Diese Funktion hat in der Psychotherapie völlig gefehlt, und wir erhoffen uns, dass dies nun in der Sprechstunde untergebracht wird.
Dabei wird es einige Patienten geben, bei denen keine Notwendigkeit zur ambulanten Psychotherapie besteht, bei denen andere Systeme, z.B. die Sucht- oder Eheberatung oder eine schnelle Einweisungen in die stationäre Behandlung greifen. Nun muss man auf diese Beratung, diese Weitervermittlung zur Hilfe nicht mehr ein Dreivierteljahr warten.
Ein Problem sehen wir darin, dass die Sprechstundenzeiten von den für die Therapie aufgewandten Zeiten abzuziehen sind. Somit verlieren wir auch therapeutisches Potential. Das muss man gegenrechnen. Welche Größenordnung das haben wird, weiß noch niemand. Deshalb war ein Dissenspunkt im G-BA, dass wir als Patientenvertretung dafür eingetreten sind, dass die Sprechstunde nicht als freiwillige Leistung der Psychotherapeuten angeboten werden kann, sondern dass es pflichtgemäß zum Leistungsspektrum eines jeden Psychotherapeuten gehören sollte. Zumal ja auf der anderen Seite Patienten verpflichtet werden, durch dieses Nadelöhr zu gehen.
Frage: Empfinden Sie es als einen notwendig, klugen Schritt, dass die Sprechstunde für Patienten der einzige Zugang zur ambulanten Psychotherapie geworden ist?
Jürgen Matzat: Nein, wir hatten dazu eine andere Auffassung. Wir waren der Meinung, dass es als eine Möglichkeit angeboten werden sollte. Dass Patienten also selbst entscheiden, ob sie die Sprechstunde und bei wem sie die Sprechstunde in Anspruch nehmen. Ich würde allen Patienten dazu raten, die Sprechstunde in Anspruch zu nehmen. Nur dass man es als zwangsmäßige Auflage festlegt, war für uns nicht nachzuvollziehen.
Frage: Des Weiteren wird die Kurzzeittherapie in zwei Teile von je 12 Stunden geteilt, die beide antragspflichtig sind. Dazwischen können bis zu drei Wochen Antragsbewilligungszeit liegen, in denen die Patienten warten, warten, warten. Also sind wieder neue Wartezeiten vorprogrammiert. Wie sehen Sie diese Festlegung?
Jürgen Matzat: Die Patientenvertretung hat sich vehement dagegen ausgesprochen und bei der Beschlussfassung das Votum eingebracht, dass wir das nicht sinnvoll und willkürlich empfinden. Die „Bänke“ waren anderer Meinung. Die Sinnhaftigkeit dieser Teilung ist auch nicht durch Daten gestützt. Es führt zu zusätzlichem Bürokratismus. Alles hätte dafür gesprochen, es bei der alten Regelung zu belassen. Zumal wir aus den vorliegenden Daten wissen, dass ein sehr großer Teil der Patienten die 25 Sitzungen gar nicht in Anspruch nehmen, sondern früher die Kurzzeittherapie beenden. Man darf dabei unterstellen, dass dies im Konsens mit der Therapeutin / dem Therapeuten geschieht. Es gibt also gar keine Notwendigkeit für diese Halbierung, Kürzung oder Verknappung. Die Motive für diese Regelungen sind äußerst fragwürdig.
Frage: In Zukunft wird die Richtlinie auch eine verbindliche Standarddokumentation vorschreiben, die zu Beginn und am Ende der Behandlung von Patienten und Psychotherapeutin gemeinsam ausgefüllt werden muss. Zu diesen Standarddokumentationsbögen gehören auch psychometrische Tests und im Kinder- und Jugendlichenbereich eine vorgeschriebene Intelligenzdiagnostik. Zudem von Eltern zu verlangen, angeben zu müssen, ob es sich bei ihnen um abnorme familiäre Verhältnisse handelt, ist eher eine Zumutung und wird dem Patient-Therapeuten-Verhältnis sicher nicht zuträglich sein. Patienten werden gezwungen, Fragen zu beantworten und Fragebögen auszufüllen und haben nicht die Möglichkeit, die vorgegebenen diagnostischen Instrumente abzulehnen bzw. einzuwilligen. Das ist nicht im Sinne des Patientenrechtegesetzes?
Jürgen Matzat: Ich glaube, dahinter verbirgt sich ein durchaus positiver Impuls, nämlich, dass man ein bisschen mehr Standardisierung in die Dokumentation bringen will. Dass man systematischer schauen will, welche Ziele sind erreicht worden. Wie so oft endet ein guter Impuls in zu viel Bürokratie. Und diese unglücklichen Formulierungen, gerade im KJP-Bereich, sind in niemandes Sinne. Man würde sich wünschen, dass diese Fragen an wissenschaftliche Institute vergeben werden, die mit Sachkunde eine sinnvolle Zusammenstellung einer Dokumentation entwerfen.
Frage: Völlig unabhängig vom jetzigen G-BA-Beschluss: Wie stellen Sie sich eine flexiblere, patientenorientierte psychotherapeutische Versorgung vor?
Jürgen Matzat: Der ganze Duktus dieser Regelungen berücksichtigt zu wenig, dass Psychotherapeuten heute einen sehr hohen Ausbildungsstand haben, und dass die Fachlichkeit der Beurteilung des Therapeuten im informierten Konsens mit den Patienten sehr viel mehr Dinge regeln sollte. Es ist hier klar eine Überregulierung von außen da. Auf der anderen Seite muss man dagegenhalten, dass das deutsche Versorgungssystem, mit all seinen Regulierungen, sehr, sehr gut aufgestellt ist und viele Möglichkeiten für jeden gesetzlich versicherten Patienten bereit hält. An manchen Stellen klagen wir auf hohem Niveau. Aber wer sollte etwas gegen Flexibilisierung haben? Wie und wo das konkret in den Regelungen stattfinden sollte, müsste man sich noch einmal genauer anschauen. Die Arbeit an der Psychiatrie-Richtlinie ist mit dieser Reform ja nicht beendet.
Interview: Antje Orgass