In ihren Vorträgen erläuterten sie die Grundbegriffe der forensischen Psychotherapie, konkrete Strukturen der Nachsorge nach Gefängnisentlassungen, die Besonderheiten in der psychotherapeutischen Arbeit mit Straftätern und konkrete Beispiele der Umsetzung in regionalen Modellprojekten. Bei der deliktpräventorischen Psychotherapie steht dabei die Vermeidung des Rückfalls in die Straffälligkeit im Vordergrund. Dieses Ziel wird mit psychotherapeutischen Methoden und einer psychotherapeutischen Haltung erreicht. Es handelt sich hierbei um ein gesellschaftlich hochrelevantes Arbeitsfeld. Die Teilnehmer nutzen die Gelegenheit dieses für viele neue und ungewohnte Arbeitsfeld besser kennenzulernen und sich mit ausgewiesene Experten und Expertinnen – wozu auch Oliver Kliesch gehörte – über berufspraktische Fragen auszutauschen.
Zu Oliver Kliesch
- im Jahr 2000 Diplom in Psychologie,
- 2008 Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie,
- von 2009 bis 2010 Ausbildung in Psychotrauma-Therapie und EMDR,
- Akkreditierter Forensischer Sachverständiger in Straf- und Strafvollstreckungsrecht seit 2014.
Wie ist Ihr Werdegang?
Oliver Kliesch: Meine berufliche Tätigkeit habe ich 2001 im Maßregelvollzug, bzw. der Forensischen Psychiatrie in Baden-Württemberg, begonnen. Bis 2009 habe ich dort auf einer besonders gesicherten Station, spezialisiert auf die Langzeit-Behandlung von schweren Sexual- und Gewaltstraftaten in ursächlichem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, gearbeitet. Im Jahr 2009 bin ich in die forensisch-psychiatrisch ambulante Nachsorge des hessischen Maßregelvollzugs gewechselt. Nebenberuflich habe ich mich 2010 in Wiesbaden in einer kleinen Privatpraxis niedergelassen, für deliktpräventive Psychotherapie, Schuldfähigkeits-/Prognose-Gutachten und forensische Fall-Supervision. Seit 2010 bin ich Lehrbeauftragter der Polizeiakademie Hessen, seit 2013/2014 Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Rechtspsychologie der SRH-Hochschule in Heidelberg.
Im Mai 2014 habe ich die psychotherapeutische Leitung der „Hessischen Fachambulanz“ in Frankfurt am Main (getragen von Förderung der Bewährungshilfe in Hessen e.V.) übernommen. Das ist eine Forensische Ambulanz für die Nachsorge bei schuldfähiger Klientel des sog. Sicherheitsmanagements der Bewährungshilfe in Hessen. Regelmäßiges Eingangskriterium ist entweder eine Vorstellungs- und Therapieweisung im Rahmen einer Führungsaufsicht, oder die Weisungen zur Absolvierung einer Heilbehandlung im Rahmen einer Bewährungsaufsicht.
Wie sind Sie zu Ihrer heutigen Tätigkeit gekommen?
Ich habe mich schon während des Studiums für die Schnittstelle von Strafrecht/Justiz und psychischer Störung/Psychotherapie interessiert und hatte außer Klinischer Psychologie die Fächer Rechtspsychologie und Kriminologie belegt. Tatsächlich hatte ich ursprünglich ein Studium der Rechtswissenschaften begonnen, bevor ich in die Psychologie gewechselt bin und habe mir auch die psychologische Tätigkeit im Strafvollzug genau angeschaut. In der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie angefangen, habe ich letztlich aufgrund meiner guten Erfahrungen in einem studienbegleitenden Dauerpraktikum auf einer Station des Maßregelvollzugs.
In diesem Berufsfeld dauerhaft gehalten haben mich dagegen mehrere Gründe: zuerst die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Arbeitsfeld, das kaum langweilig werden kann. Außerdem die regelmäßige Möglichkeit, Menschen über Jahre begleiten zu dürfen, bei denen Therapie-Maßnahmen sichtlich positive Veränderungen bewirken. Nicht zuletzt aber die Probanden selber, die sich zwar eingangs häufig ein wenig sperrig gebärden, aber unmittelbar schätzen, wenn man sie respektvoll behandelt und einem wirklich nie vergessen, dass man ihnen zu einem besseren Leben verholfen hat.
In welchem Bereich der Forensik sind Sie tätig?
Tatsächlich ist „die Forensik“ ein relativ unspezifischer Begriff, für ein breites Feld von gerichtsnahen psychologisch-psychotherapeutischen Tätigkeiten. Im stationären oder ambulanten Maßregelvollzug, bzw. in einer forensisch-psychiatrischen Ambulanz, geht es im Kern um psychiatrische Patienten, deren Straftat mit einer psychischen Erkrankung zusammenhing. Im Justiz-/Strafvollzug und einer Forensisch-therapeutischen Ambulanz geht es dagegen eher um die Veränderung von Verhaltensauffälligkeiten und kriminogenen Eigenschaften, ohne zugrunde liegende psychische Störung. Häufig wird in beiden Bereichen von „Kriminaltherapie“ gesprochen; hier gebrauche ich „deliktpräventive-“, „deliktorientierte-“ und „Kriminaltherapie“ äquivalent.
Zwischen den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern gibt es natürlich Überschneidungen. Seit 2014 gilt meine Hauptbeschäftigung schuldfähigen Probanden der Bewährungshilfe mit Therapieweisung. Eine ordentliche psychopathologische Diagnostik muss man selbstverständlich dennoch machen. Es gibt nicht wenige Probanden mit psychischen Störungen ohne kausalen Zusammenhang zu kriminellem Verhalten, die gleichwohl behandelt werden müssen, um die Wahrscheinlichkeit von erneuten Delikten zu reduzieren.
Wie kann man sich als Laie Ihre Tätigkeit vorstellen? Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Die Tätigkeit in einer ambulanten Nachsorgeeinrichtung ist zwischen den Tätigkeitsfeldern „Stationärer Maßregelvollzug“ und „Psychotherapeutische Praxis“ anzusiedeln. Ich sehe, ebenso wie in einer Praxis üblich, Probanden in ein- oder mehrwöchentlicher Frequenz und damit deutlich seltener, als im stationären Setting. Grundsätzlich fallen mehr (nicht nur kriminal-) diagnostische Aufgaben an, als in einer psychotherapeutischen Praxis, allerdings nicht ganz so viele periphere Aufgaben, wie die Visiten, Besprechungen, Teamsitzungen, etc., im stationären Kontext. Wir arbeiten primär empfangend, in Einzel- und Gruppentherapie, während der allgemeinen Bürozeiten und den frühen Abendstunden, für die berufstätigen Probanden. Manchmal muss man aber auch selber vorbei fahren oder schauen, wie die Behandelten wohnen. Nahezu alle Probanden sind Männer, viele bleiben während der ganzen, mehrjährigen Bewährungszeit im Kontakt, andere kann man nach 20 bis 50 Sitzungen ziehen lassen.
Wie kommen die Klienten zu Ihnen?
Die Zugangswege sind in jeder Forensisch-psychotherapeutischen Ambulanz in Deutschland anders geregelt. Für die HeFA in Frankfurt gilt, dass ausschließlich Bewährungshelfer, des Fachbereichs Sicherheitsmanagement in Hessen, Probanden anmelden, bei denen die gerichtliche Weisung zu einer Therapie oder Heilbehandlung vorliegt. Insoweit steht auch die Stellung einer Therapie-Indikation nicht im Vordergrund, denn einer gerichtlichen Anordnung ist erst einmal zu folgen. Eine Ausnahme ist es, wenn Bewährungshelfer eine Kriminaltherapie für dringend notwendig erachten und einen Probanden zur Diagnostik vorstellen, um ggf. eine entsprechende Weisung beim zuständigen Gericht anzuregen.
Wie ist die Motivation Ihrer Klienten sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen?
Die initiale Motivation von ehemaligen (Sexual-) Straftätern zu einer Psychotherapie ist gemeinhin niedrig, denn die Scham ist häufig groß. Nahezu alle kommen schließlich nicht im engeren Sinnen freiwillig, sondern werden, vereinfacht gesagt, von Dritten geschickt. Häufig wird eingangs argumentiert, dass man Psychotherapie allgemein skeptisch gegenüberstehe oder diese in ihrem speziellen Fall überflüssig wäre, dass man damit bereits zuvor schlechte Erfahrung gemacht habe, oder auch, dass eine Behandlung bereits abgeschlossen sei und eine Nachbetreuung unnötig. Gelegentlich kommt es vor, dass Probanden abstreiten, überhaupt eine Straftat begangen zu haben. Insgesamt gibt es aber nur wenige, bei denen diese Anfangsprobleme bis zum Abschluss der Therapie bestehen; eine erfolgreiche deliktpräventive Therapie ist im Übrigen ausdrücklich auch möglich, ohne dass ein Tatgeschehen eingeräumt wird.
Was sind die besonderen Herausforderungen Ihres Bereiches?
Eine besondere Herausforderung von deliktpräventiver Psychotherapie und forensisch-therapeutischer Nachbetreuung ist es, mit meist zuerst ziemlich unwilliger Klientel, gleichwohl ein langfristig tragfähiges Arbeitsbündnis mit dem Ziel einer Rehabilitation aufzubauen.
Dazu muss man bereit sein, unmotivierten Probanden ggf. auch „hinterher zu laufen“, um diese überhaupt erst einmal „ins Gespräch zu locken“ und auch in schwierigen Phasen in der Therapie zu halten. Kriminaltherapie findet immer im Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Kontrolle statt, und dass Probanden es wagen, deliktrelevante Denk- und Verhaltensweisen zu berichten, müssen sich Therapeuten erst „verdienen“. Es ist Fingerspitzengefühl und Rechtskunde nötig, um immer wieder neu zu entscheiden, was noch intern gehandhabt werden kann und was nach außen berichtet werden darf, sollte oder sogar muss; möglichst unter Einbezug der Probanden. Die Aufgabe ist primär keine Heilbehandlung, sondern ein gesellschaftlicher Auftrag: eine Reduktion der Rückfall-Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten ist bei Unbehandelten und Therapie-Abbrechern aber empirisch deutlich höher, so dass es zur Professionalität gehört, „dran“ zu bleiben, selbst wenn der Proband gerade versucht, es einem zu verleiden. Zuletzt ist es deswegen auch eine Herausforderung zu ertragen, dass Rückfälle einzelner Probanden ein schon statistisch unvermeidliches Berufsrisiko sind, selbst wenn man immer alles richtig machen würde, was natürlich niemand kann. Der Auftrag ist deswegen ausdrücklich nicht, Deliktfreiheit zu garantieren, sondern therapeutische Maßnahmen und Strategien anzuwenden, deren deliktpräventive Wirkung wissenschaftlich belegt ist.
Was unterscheidet Ihre psychotherapeutische Arbeit von der psychotherapeutischen Arbeit in einer ambulanten Praxis?
Aus den angeführten Beispielen lässt sich schon schließen, dass die Arbeit mit ehemaligen Straffälligen häufig, wenngleich natürlich nicht in jedem Fall, deutlich aufwendiger ist, als mit Menschen, die freiwillig zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommen. Alle meine Probanden dürfen mich jederzeit kontaktieren. Das heißt nicht, dass ich in der Freizeit jederzeit sofort ans Diensttelefon gehe oder mitten in der Nacht vorbeikomme. Aber ich höre mir schon mal zu ungewöhnlichen Zeiten die Bandansage von Probanden an, von denen ich weiß, dass es dringend sein könnte und eine kurze Intervention jetzt, per SMS, viel mehr Arbeit später spart. Das alles gibt es natürlich auch bei Niedergelassenen (und selbstständigen Handwerkern sowieso). In der Deliktprävention steht man schon deswegen häufiger auch zwischen den Terminen als „Retter in der Not“ zur Verfügung, weil man ja möchte, dass Probanden sich in schwierigen Situationen Rat holen, anstatt gewohnte, aber unzuträgliche Strategien anzuwenden. Zur „Abendunterhaltung“ ausgenutzt worden bin ich noch nie und obendrein nimmt die Bedürftigkeit der Probanden mit fortschreitender Therapie ab.
Wie gehen Sie persönlich mit den Anforderungen Ihrer Arbeit um? Gibt es spezielle Techniken und Methoden oder reicht professioneller Abstand?
Noch gar nicht zur Sprache gekommen, sind die Inhalte deliktorientierten Therapie mit Sexual- und Gewaltstraftätern. Das hat seinen Grund, denn ob man Berichte über den Verlauf von Übergriffen, Gespräche über deviante Masturbationsphantasien und kriminogene Haltungen aushält oder sogar interessant findet, zumal wenn man weiß, dass diese Person in der Vergangenheit Straftaten begangen hat, kann jede(r) nur selbst heraus finden. Gerne führe ich in dem Zusammenhang den alten Schulkollegen an, der mir freudestrahlend von seiner psychotherapeutischen Tätigkeit auf einer kinderonkologischen Station berichtete; das würde ich nicht können, denke ich! Man weiß es aber nicht, ohne es versucht zu haben und wenn man es interessant findet, lohnt sich ein Versuch allemal. Therapeuten, die die Inhalte zu sehr belasten, nutzen dagegen alle Techniken nichts. Selbst wenn es meist unproblematisch ist, können besondere Ereignisse oder Probanden Therapeuten „auf dem falschen Fuß erwischen“. Wer sein psychotherapeutisches Handwerk versteht, geht ohnehin einigermaßen regelmäßig in Supervision, ganz egal, in welchem Bereich. Darüber hinaus empfehle ich persönlich lediglich, eigene Moralvorstellungen immer außen vor zu lassen, wie auch Mutmaßungen, ob einem Probanden zu „glauben“ sei oder nicht. Tatsächlich spielt es keine große Rolle, ob ein Proband eine Straftat tatsächlich so, oder wie im Urteil beschrieben, begangen hat. Deliktprävention ist dagegen etwas sehr pragmatisches, orientiert an objektiven kriminogenen Risiken und Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Delikte, individuellem Behandlungsbedarf und realistischen Möglichkeiten zur Behandlung dieser Risiken, und den Ressourcen, die die Behandelten selber einbringen.
In welchem Bereich müssen Umdenkprozesse stattfinden, damit Psychotherapie im Bereich der Forensik einen anderen Stellenwert erhält?
Ich habe nicht den Eindruck, dass Psychotherapie in der Forensik einen anderen Stellenwert erhalten müsste. Im Gegenteil, wird deliktorientierte Psychotherapie seit Jahrzehnten in allen forensisch-gerichtlichen Zusammenhängen meiner Erfahrung nach sehr geschätzt, zumal ihr Erfolg immer wieder empirisch bestätigt wird. Eine andere Frage ist, ob gesellschaftlich der nachweislich große Nutzen von deliktpräventiver Psychotherapie mehr in den Vordergrund gestellt werden sollte, als die, in jeder Tätigkeit, unausweichlichen einzelnen Misserfolge. Wahrscheinlich wird das nicht gelingen, weil sich Sex-Crime schlicht gut verkauft – die tatsächlich erfasste Kriminalität, insbesondere die Jugendkriminalität, nimmt in Deutschland seit Jahren kontinuierlich ab, die mediale Aufmerksamkeit darauf dagegen im selben Maße zu. Im Ausland wird gelegentlich bereits mit den berechenbaren Ersparnissen, für die Staatshaushalte, argumentiert. Ich finde, darüber hinaus ist der humanitäre Erfolg, für sowohl vermiedene Geschädigte, als auch rehabilitierte ehemalige Schädiger, bemerkenswert.
Häufig wird vom Psychotherapeutenmangel in der Forensik berichtet. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Ob es einen Mangel, besonders an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Maßregelvollzug oder dem Justizvollzug gibt, kann ich nicht beurteilen, weil mir die Zahlen fehlen. Sicher weiß ich, dass Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie fehlen, aber das hängt nicht mit der Forensik zusammen. Tatsächlich ist es allerdings nicht einfach, Psychologische Psychotherapeuten zu finden, die diese Arbeit ambulant machen wollen, sei es als Niedergelassener oder angestellt in einer Nachsorge-Ambulanz. In meiner Fortbildungs-Tätigkeit wurden häufig Befürchtungen besonderer persönlicher Gefährdung angeführt (wofür es keinen Anhalt gibt; die schrecklichen Ausnahmen sind genau das), dass es bekanntlich keinen Erfolg zeitige (was nachweislich falsch ist, wenngleich das weitgehend unbekannt ist) oder, dass einem „das Messer in der Tasche aufgehe“, wenn man davon höre (was sich häufig gibt, sobald man mit ehemaligen Tätern zusammentrifft und diese als Menschen erkennt). Tatsächlich erfordert die ambulant deliktpräventive Arbeit viel Flexibilität, Kompromissbereitschaft, Kreativität und nicht zu wenig Umdenken, aber für diesen Einsatz erhält man eine besonders interessante Tätigkeit.
Wo sehen Sie die Psychotherapie im Bereich der Justiz in 10 Jahren?
Es gibt meiner Einschätzung nach ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass wissenschaftlicher Erkenntnisse vermehrt zur Entscheidung über die Verteilung von Geldern heran gezogen werden. Vielleicht ist auch der Wunsch Vater des Gedankens, wenn ich davon ausgehe, dass deliktorientiert-rehabilitative Psychotherapie, und Behandlungsvollzug anstatt Sanktionsvollzug, in 10 Jahren noch breiter eingesetzt werden wird, um Geld zu sparen und Leid zu verhindern; egal in welcher Reihenfolge.