Frage: Inwieweit fließt aus Ihrer Sicht die praktische Tätigkeit/Erfahrungen des Psychotherapeuten in das Rechtsgebiet ein?
Markus Meinert: Eine fundierte klinische Erfahrung halte ich für eine gutachterliche Tätigkeit für unerlässlich. Gerade im Sozialrecht sind zumindest Grundkenntnisse somatischer Krankheitsbilder erforderlich. Die praktischen Erfahrungen des Psychotherapeuten bei der Diagnostik und Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen sind insbesondere für die prognostische Einschätzung in Bezug auf Überwindbarkeit und Behandlungsdauer wichtig. Beispielsweise gilt es im Rentenrecht zu prüfen, ob eine Gesundheitsstörung bei „zumutbarer Willensanspannung“ und entsprechender Behandlung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes überwunden werden kann. Die Rollentrennung zwischen Therapeut und Gutachter muss sich dabei jeder bewusst machen, der in beiden Gebieten tätig ist. Deshalb sollte der Gutachter auch nicht gleichzeitig Behandler sein. Als Sachverständiger ist man zur Neutralität gegenüber allen Beteiligten verpflichtet.
Zu Markus Meinert
- wurde am 06.04.1975 geboren
- verheiratet, 1 Tochter (5 Jahre)
- Studium der Psychologie von 1995-2000 in Leipzig
- seit 2000 im Klinikum Mittleres Erzgebirge in Zschopau beschäftigt, seitdem im Prinzip auch gutachterliche Tätigkeit mit Schwerpunkten Sozial- und Strafrecht
- Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten in Leipzig und Chemnitz
- seit 2011 Approbation (Verhaltenstherapie)
- Interessen/ Hobbys: Sport, Wandern, Reisen, Zeit für die Familie zu haben
Mit welchen Fragestellungen werden Psychotherapeuten im Sozialrecht konfrontiert?
Markus Meinert: Hier sind verschiedenste Fragestellungen möglich. Schwerpunkte liegen im Rentenrecht bei Anträgen auf Erwerbsminderungsrente, bei der Einschätzung einer Schwerbehinderung (Grad der Behinderung, GdB) oder auch bei der Beurteilung von etwaigen Traumafolgen im Opferentschädigungsgesetz (OEG). Typische Störungsbilder, für die wir psychologische Psychotherapeuten kompetente Aussagen treffen können sind Depressionen, Angststörungen, Intelligenzminderungen, Persönlichkeitsstörungen oder Posttraumatische Belastungsstörungen, um nur einige zu nennen. Aber auch im Berufsalltag wird der Psychotherapeut immer wieder mit sozialrechtlichen Fragestellungen konfrontiert, beispielsweise bei Befundanforderungen durch Gerichte, arbeitsamtsärztliche Dienste oder den MDK, ferner bei Anträgen von Patienten auf Erwerbsminderungsrente oder Feststellung einer Schwerbehinderung.
Wie ist der Ausbildungsweg, um als Gutachter im Sozialrecht anerkannt zu werden?
Markus Meinert: Die Gutachtenaufträge werden überwiegend von den Sozialgerichten erteilt. Der Richter ist dabei in seiner Wahl des Sachverständigen frei. Als Gutachter unterstützen wir dabei lediglich den Entscheidungsprozess. Das Gutachten unterliegt der freien Beweiswürdigung durch das Gericht. Die erforderliche Sachkunde sowie die Einhaltung der Berufsordnung sind Grundvoraussetzungen. Insbesondere auf § 27 der Berufsordnung der OPK sei hingewiesen, dort werden Richtlinien zur Gutachtertätigkeit ausgeführt.
Die Approbation ist sicherlich ein wichtiges Kriterium, welches aber keinesfalls ausreicht, um gutachterlich tätig sein zu können. Hier sind weiterführende sozialmedizinische und rechtliche Kenntnisse erforderlich. Die curriculare Fortbildung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer mit dem Führen von Sachverständigenlisten oder die Ausbildung zum Rechtspsychologen durch BDP/DPA vermitteln entsprechende Fachkenntnisse. Gern verweise ich in diesem Zusammenhang auf das vom 23.11. -26.11.2015 wieder stattfindende Modul der OPK im Bereich Sozialrecht.
Spezielle Seminare zum Sozialrecht werden durch verschiedene Institutionen angeboten, Gerichte führen Qualitätszirkel gemeinsam mit Sachverständigen durch. Als sachverständig tätig werdender Psychotherapeut ist die Kenntnis der einschlägigen Literatur und von Fachzeitschriften (z.B. „Der medizinische Sachverständige“, „Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie“) wichtig sowie eine regelmäßige Fortbildung (Besuch von Kongressen, Tagungen etc.). Besonders wertvoll und im Sinne der Qualitätssicherung wichtig ist der fachliche Austausch in Supervision, Fachteams oder Intervision. Ein Tipp für Kollegen ist, sich direkt bei potentiellen Auftraggebern vorzustellen. Insbesondere beim Einstieg in die gutachterliche Tätigkeit ist fachliche Begleitung dringend zu empfehlen.
Ist das Sozialrecht ein auskömmliches Rechtsgebiet der Begutachtung?
Markus Meinert: An erster Stelle möchte ich bei dieser Frage auf die hohe ethische Verantwortung hinweisen, die mit einer gutachterlichen Tätigkeit einhergeht, genauso wie bei der therapeutischen Arbeit. Die Bezahlung erfolgt nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG), wobei am 01.08.2013 eine Anpassung erfolgte. Es existieren 3 Honorargruppen, die nach dem Schwierigkeitsgrad gestaffelt sind (M1: 65,00 €, M2: 75,00 €, M3: 100,00 €, jeweils pro Zeitstunde). Im Sozialrecht ist in der Regel die Gruppe M2 heranzuziehen. Es existieren vorgegebene Richtwerte. Beim Aktenstudium wird beispielweise für 100 Seiten von ca. einer Stunde Zeitaufwand ausgegangen, so dass gerade am Anfang deutlich mehr Zeit benötigt wird, als abgerechnet werden kann. Der in der Niederlassung tätige Psychotherapeut sollte dies im Auge haben, wenn er einen Vergleich mit seinem „Stundensatz“ vornimmt.
Wie zeitaufwendig ist die Begutachtung?
Markus Meinert: Von Beginn an sollte man sich darüber klar werden, dass bei vorauszusetzender Sorgfalt eine Sachverständigentätigkeit nicht „so nebenbei“ geht und ein erheblicher Zeitaufwand für Aktenstudium, Untersuchung und Abfassung des Gutachtens eingeplant werden muss. Auch die Fristsetzungen für die Abgabe des Gutachtens dürfen nicht aus dem Auge verloren werden. Mit einem 8-Stunden Arbeitstag ist es da manchmal nicht getan und auch für die Wochenenden darf zuweilen etwas Arbeit eingeplant werden. Zeit sollte auch für Fortbildung, Supervision oder Intervision freigeschaufelt werden.
Wo sehen Sie die Chancen und die Attraktivität in diesem Arbeitsfeld? Was ist das Schöne an der Begutachtungs-Tätigkeit?
Markus Meinert: Ohne Zweifel ist dies ein sehr interessantes Arbeitsfeld, bei dem man auch über den eigenen „therapeutischen Tellerrand“ hinausblicken kann. Gerade die Verbindung mit juristischen Sachverhalten und das Finden einer gemeinsamen Kommunikationsebene stellt eine gewinnbringende Herausforderung dar. Dies schult auch stringentes Vorgehen und logisches Argumentieren bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Standpunkten sowie der Formulierung der eigenen gutachterlichen Einschätzung, die auch für Nicht-Psychotherapeuten nachvollziehbar und lesbar sein muss.
Wie gut ist die Tätigkeit in der Praxis oder in der Klinik mit der der Begutachtung vereinbar?
Markus Meinert: Hier muss ich nochmals auf den nicht unerheblichen Zeitaufwand hinweisen und die entsprechende Organisation (Nebentätigkeitserlaubnis, Tage für Begutachtung in der Praxis, Flexibilität bei evtl. Gerichtsterminen) hinweisen. In der Klinik besteht der große Vorteil des fachlichen Austausches und der Kooperation mit Ärzten, wenn z.B. ein körperlicher Befund zu erheben oder eine somatische Erkrankung zu beurteilen ist. Auch besteht die Möglichkeit, bei Bedarf weitere Befunde einholen zu können (z.B. Labor, CCT, MRT). In der Niederlassung wäre aber genauso eine Kooperation denkbar (Gemeinschaftspraxis, MVZ, Neurologe etc.).
Wie sieht die Zusammenarbeit mit Institutionen, Ärzten, Berufsgenossenschaften, Krankenkassen, Kliniken etc. bei der Begutachtung aus?
Markus Meinert: Gerade im Sozialrecht kann bei speziellen Fragestellungen die Zusammenarbeit mit ärztlichen Kollegen sehr sinnvoll sein. Ansonsten ist bei einer Begutachtung der jeweilige Auftraggeber (überwiegend Sozialgerichte) der Ansprechpartner. Vom Auftraggeber werden die Fragen gestellt, die beantwortet werden sollen, er stellt auch die Akten zur Verfügung, in denen Befunde von behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten, Epikrisen über Klinikaufenthalten, Rehaberichte, bisherige Gutachten und die Stellungnahmen der Prozessbeteiligten beinhaltet sind. Der zu Begutachtende ist zu Beginn über die eingeschränkte Schweigepflicht aufzuklären, Gutachten sind nur an den jeweiligen Auftraggeber zu übersenden. Mit diesem ist auch Rücksprache zu halten, wenn man weiter Befundberichte für erforderlich hält (z.B. bei einer neu begonnenen Psychotherapie) oder wenn Fragen auftauchen.
Was könnte getan werden, um die Kompetenzen von fortgebildeten Psychotherapeuten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen?
Markus Meinert: Gerade in diesem Bereich ist die Öffentlichkeitsarbeit der Psychotherapeutenkammer und von Berufsverbänden besonders wichtig. Die von der OPK geführten Sachverständigenlisten sind da sicherlich ein Ansatz. Potentiellen Auftraggebern zu vermitteln, wo die Kompetenzen von Psychotherapeuten liegen, ist meiner Meinung nach ein weiterer wichtiger Punkt, da hier eindeutig noch Aufklärungsbedarf besteht. Dies ist beispielsweise im Familienrecht dem Berufstand bereits wesentlich besser gelungen. Gemeinsame Veranstaltungen oder spezielle Fortbildungsveranstaltungen, die sich auch an Richter oder Rechtsanwälte richten, wären ein Ansatz. Nach meiner Erfahrung findet beispielsweise das Thema der Psychodiagnostik reges Interesse, was zweifelsfrei eine Kernkompetenz von uns psychologischen Psychotherapeuten ist. In diesem Zusammenhang gilt es aber auch die fundierte Ausbildung bei der Diagnostik und Therapie zu vermitteln, die mit der Approbation einhergeht Die Gleichstellung von Psychologischen Psychotherapeuten zu Fachärzten sollte ein wichtiges berufspolitisches Anliegen der Therapeutenkammern bleiben, nicht nur was die Bezahlung in Kliniken anbelangt.