Frage: Sie haben in jüngster Zeit als einer der renommiertesten Hirnforscher Deutschlands wesentliche Ergebnisse der Neurobiologie in den Aufmerksamkeitsfokus der Psychotherapeuten gelenkt. Welches sind die hierfür relevanten Projekte und was für ein methodisches Design liegt diesen Ergebnissen zugrunde?
Professor Gerhard Roth: Ich beschäftige mich seit längerem mit der Psychotherapie-Wirkungsforschung, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Neurowissenschaften und der Hirnforschung. Wir konnten eine wichtige Hypothese bestätigen, die schon länger kursiert, nämlich, dass einer der wichtigsten Wirkfaktoren bei allen Psychotherapieformen die „therapeutische Allianz“ ist. Das heißt: ein ganz unspezifischer Wirkfaktor, nämlich der des Vertrauens zwischen Patient und Therapeut, hat einen Einfluss von 30 bis 70 Prozent auf jegliche Psychotherapie. Manchmal bestimmt er sogar 100 Prozent der Wirkung – unabhängig von der Methode, die angewandt wird. Bestimmte Methoden können also aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unsinnig sein, und allein das Vertrauensverhältnis von Therapeut und Patient und auch das Vertrauen in die Methode würden ausreichen, eine deutliche Besserung der Befindlichkeit zu erreichen. Die Neurobiologie kann inzwischen erklären, wie es hierzu kommt. Wenn ein Vertrauensverhältnis existiert, wird in den Gehirnen von Therapeut und Patient der Stoff Oxytocin ausgeschüttet, der eine enge Bindung herstellt. Oxytocin hat aber auch die positive Wirkung, dass es das Stresshormon Cortisol reduziert. Es führt zudem zu einer Beruhigung durch die Steigerung von Serotonin und über die Ausschüttung „hirneigener Drogen“ zum Wohlbefinden. Wir können also das, was wir schon immer vermutet haben – unspezifische positive Effekte bei jeglicher Behandlung, unabhängig von deren Inhalt – aus neurobiologischer, naturwissenschaftlicher Sicht voll bestätigen. Manchmal ist dies sogar ein zu 100 Prozent erklärender Faktor.
Dies trifft aber nur in einer ersten Therapiephase zu. Diese Phase kann Wochen, ja sogar Monate gehen, in der es dem Patienten deutlich besser geht. In dieser Zeit ist die Gefahr eines Therapieabbruchs sehr groß. Bei schwereren psychischen Erkrankungen sind damit allerdings die eigentlichen Ursachen nicht beseitigt. Und genau diese Patienten haben Rückfälle und stehen nach einem Jahr wieder vor der Tür. Gerade bei Depressionen liegt die Rückfallquote um die 80 Prozent. Dann kommt ein weiterer Faktor für die längerfristige Therapie ins Spiel, nämlich die Umstrukturierung tiefliegender dysfunktionaler Gewohnheiten, die mit psychischen Erkrankungen verbunden sind. Die Neurobiologie kann zeigen, dass dies mit einer bloßen Einsicht in die Ursachen der Erkrankung, zum Beispiel durch die klassische kognitive Verhaltenstherapie, aber auch durch eine rein aufdeckende Psychoanalyse überhaupt nicht zu bewältigen ist. Stattdessen müssen die dysfunktionalen Gewohnheiten tief im Inneren des Gehirns, die in den sogenannten Basalganglien lokalisiert sind, durch prozedurale Weise geändert werden, d.h. durch Überschreiben. Das bedeutet Einüben, Einüben, Einüben.
Das sind die beiden Kernergebnisse Das dritte ist schon sehr heikel, dass man nachweisen kann, dass alle die Wirkmodelle, die die gängigen Therapierichtungen vorweisen, nur bedingt wissenschaftlich begründet sind, und dass die Therapieerfolge in der Regel geringer sind als offiziell angegeben.
Frage: Ihre wissenschaftlichen Ergebnisse dürften damit für reichlich Zündstoff gesorgt haben.
Professor Gerhard Roth: Oh ja, das haben sie. Ich habe diese Ergebnisse inzwischen auf vielen Tagungen und Kongressen von Psychotherapeuten vorgestellt und es wird mittlerweile sehr gefasst und sehr interessiert aufgenommen. Gerade weil im Rahmen der Forderung einer evidenzbasierten Medizin auch Psychotherapie naturwissenschaftlich belegt werden muss, wie das wirken soll, was man da tut. Deshalb sind sowohl Vertreter der klassischen Verhaltenstherapie, der kognitiven Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse und psychodynamischer Verfahren an dem, was wir publiziert und untersucht haben, sehr interessiert. Mich überrascht selbst, dass das Interesse die Ablehnung so stark überwiegt.
Frage: Welches methodische Design liegt diesen Forschungsprojekten zugrunde?
Professor Gerhard Roth: Wir haben eine große Studie über zwei Jahre gemacht, in der wir 20 Patienten in Bremen, die unter schwerer Depression litten und eine psychodynamische Therapie bekamen, zu Beginn, in der Mitte und am Ende mit neurobiologischen Methoden, mit Elektroenzephalografie und mit Kernspintomografie ins Gehirn geschaut. Gemeinsam mit Psychiatern, Psychotherapeuten und Neurobiologen haben wir die Patienten auch interviewt. Die Ergebnisse haben wir mit Kontrollpersonen verglichen. Das waren Studierende der Universität Bremen. Wir haben zu Beginn zeigen können, dass sich die schwere Depression auch deutlich im Gehirn zeigt, nämlich in den Zentren des limbischen Systems. Wir konnten damit bestätigen, dass man im Gehirn Vorgänge erkennen kann, die mit depressiven Erkrankungen einhergehen. Und es gelang uns, den Therapieerfolg, der dann nach ein bis zwei Jahren eintrat, mit bestimmten Veränderungen im Gehirn hin zu einem Normalzustand zu korrelieren. Das hat großes Aufsehen erregt und hat auch sehr viel Geld gekostet. Das war die erste Studie überhaupt zur Effektivität psychodynamischer Therapien. Daraus haben wir viele Erkenntnisse abgeleitet.
Frage: Sollte die Psychotherapie verstärkt mit der Neurobiologie zusammenarbeiten?
Professor Gerhard Roth: Ja, unbedingt. Es geht dabei auch nicht nur um die Neurobiologie, sondern um die enge Zusammenarbeit zwischen Neurobiologen, Psychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten insgesamt. Dabei geht es um die Frage: was ist an den Wirkmodellen dran, z.B. der Verhaltenstherapie, der kognitiven Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse, der psychodynamischen Theorie? Was ist neurobiologisch und psychologisch fundiert und was wirkt nicht? Einige Maßnahmen stimmen und andere Maßnahmen können aus Sicht der Hirnforschung überhaupt nicht funktionieren. Das stellen wir den den Vertretern der verschiedenen Therapieschulen vor.. Ein ganz wichtiger Umstand ist, dass Therapeuten, die für eines der Richtlinienverfahren zugelassen sind, oft in Wirklichkeit in ihren Praxis etwas anderes machen als „offiziell“ angegeben, und mit dem sie dann erfolgreich sind.. Es tritt dann etwa ein Therapeut auf und sagt, ich bin kognitiver Verhaltenstherapeut. Das, was ich in meiner Praxis tue, hat Erfolg. Das verbucht die kognitive Verhaltenstherapie dann ungerechtfertigterweise als ihren Erfolg. Wenn man aber nachvollzieht, was diese Therapeuten in ihren Praxen wirklich praktiziert haben, hat das mit kognitiver Verhaltenstherapie häufig nichts zu tun. Entsprechendes gilt natürlich auch für die anderen Richtlinienverfahren. Das ist nichts anderes als Etikettenschwindel. Deshalb ist es Zeit zu überlegen, ob man das Herausposaunen von großartigen Wirkungen der verschiedenen Therapieverfahren nicht einfach unterlassen sollte. Wir wissen inzwischen ganz gut, was in der Psychotherapie wirkt. Wir sollten eine Toolbox, einen Werkzeugkasten mit verschiedenen Methoden anlegen, den wir bei verschiedenen Erkrankungen verschiedener Patienten mit unterschiedlichen Persönlichkeiten anwenden. Das, was der bedeutende Psychotherapeut Klaus Grawe vor Jahren schon gefordert hat: nämlich eine allgemeine oder integrierte Psychotherapie.
Frage: Wie werden sich dann aus Ihrer Sicht die Richtlinienverfahren entwickeln?
Professor Gerhard Roth: Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich kenne die Verhältnisse ganz gut. Ein sehr guter Freund von mir war der Co-Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates für die Richtlinienverfahren und weiß, wie dort machtpolitisch vorgegangen wird. Und wenn man die ganzen Fallstricke der Schulenbildung durchschaut hat, wobei es um sehr viel Geld geht, dann muss sich dramatisch etwas ändern und es wird sich auch ändern. Die Krankenkassen wollen jetzt schon wissen, was Psychotherapeuten tatsächlich machen und wie und warum es funktioniert. Das ist in der sonstigen Medizin zunehmend der Fall, aber in der Psychotherapie überhaupt noch nicht. Es kann nicht sein, dass die verschiedenen Richtlinientherapien sich die Kompetenz absprechen, aber gleichzeitig einen Kuhhandel hinsichtlich der Zulassung betreiben. Stattdessen müsste die Frage lauten: Was sind unsere großen, positiven Wirkfaktoren und wann und wie kann ich diese zum Wohle des Patienten am besten zum Einsatz bringen?
Frage: Bemessen Sie diesem Ansatz eine große Chance zu?
Professor Gerhard Roth: Was Menschen wie Institutionen letztlich zur Änderung zwingt, ist der Leidensdruck. Die Forderung von Klaus Grawe ist in der Welt. Alle Maßnahmen, die zur Veränderung der Persönlichkeit, Befindlichkeit von Menschen angewandt werden, unterliegen immer stärker der Forderung nach dem Nachweis der Effizienz. Das wird sich schon aus Kostengründen verstärken. Ich sehe anhand meiner Einladungen zu Tagungen und Kongressen die Psychotherapeutenschaft zunehmend beunruhigt. Man möchte den Patienten keine Behandlung unter einem falschen Etikett vorschwindeln.
Frage: Wahrscheinlich müssen demnächst die meisten therapeutischen Konzepte unter dem Aspekt der Dominanz der „therapeutischen Allianz“ überprüft bzw. verändert werden. Welche Konsequenzen sehen Sie als Neurobiologe für die Lernprogramme der zukünftigen Direktstudenten der Psychotherapie bzw. der Fort- und Weiterbildungsinstitute?
Professor Gerhard Roth: Dass Bindung und Vertrauen bei Psychotherapie eine große Rolle spielen, wird bereits allgemein akzeptiert. Inzwischen sind auch die Verhaltenstherapeuten achtsamkeits- und bindungsorientiert. Also auf Bindung sind jetzt alle aus. Das allein nutzt aber nichts, wenn man nicht auch erklärt, warum es wirkt und es nicht fauler Zauber ist. Das Zweite ist genauso wichtig: Zu erkennen, dass schwerere Belastungen psychischer Art nur überschrieben, aber zumindest unter Normalbedingungen nicht gelöscht werden können. Dazu muss man wissen, wie Psyche im Gehirn entsteht und wie psychische Erkrankungen im Gehirn ablaufen. All dieses Wissen ist unbedingt notwendig für einen Psychotherapeuten, damit er versteht, was er tun soll und warum das eine Erfolg hat und das andere nicht. Es kommt schon auf eine allgemeine Psychotherapie-Ausbildung heraus – im Sinne von Klaus Grawe, bei der diese Aspekte des Verständnisses der neurobiologischen Art eine viel größere Rolle spielen müssen. Das wird kommen, die Forderungen dazu sind da.
Frage: Mit welchen Gedanken sehen Sie dem 3. Ostdeutschen Psychotherapeutentag im März kommenden Jahres in Leipzig entgegen, auf dem Sie einen Plenumsvortrag mit dem Titel „Grundzüge einer „allgemeinen Psychotherapie“ aus neurobiologischer Sicht“ halten werden? Mit welcher Resonanz rechnen Sie?
Professor Gerhard Roth: Viele Therapeuten sind verunsichert, weil sie die Diskrepanz der Schule, der sie angehören und angehören müssen – aus kassenärztlichen Gründen – und dem, was sie machen, unbefriedigt lässt. Ich rechne mit einer sehr offenen Zuhörerschaft. Dann gilt es auch darüber zu sprechen, Konzepte zu verändern. Ich bin sehr optimistisch und freue mich auf Leipzig. Man muss endlich die Strategie aufgeben, den anderen psychotherapeutischen Richtungen die Kompetenz abzusprechen und die eigenen Erfolge deutlich zu überhöhen, und die Therapeuten müssen viel ehrlicher werden in Hinblick auf das, was sie tatsächlich machen, und dabei ideologische Grenzen bewusst überschreiten. Die Patienten werden es den Therapeuten danken.