Frage: Herr Dr. Neudeck, Expositionsverfahren sind ja schon lange und fest in der Verhaltenstherapie verankert und gelten oft als Musterbeispiel verhaltenstherapeutischer Techniken. Warum lohnt es sich auch für „alte Hasen“ an Ihrem Workshop zu transdiagnostischen Perspektiven bei Expositionsverfahren teilzunehmen?
Dr. Peter Neudeck: Eine Antwort könnte lauten: Auch alte Hasen können immer noch etwas Neues dazulernen. Konkret lohnt es sich sehr auf dieses Standardverfahren zu schauen. Die Exposition in der Psychotherapie wird stark beforscht und es sind in den letzten Jahren viele Arbeiten erschienen, die direkte Konsequenzen für die Umsetzung in die praktische Arbeit haben. Kurz gesagt, es gibt viel Neues, das man in das Konzept einer expositionsbasierten Psychotherapie einbauen kann. Viel Neues heißt, dass so verschieden die Diagnosen und Störungsbilder sind, es doch Gemeinsamkeiten gibt, auf die in der Therapie eingegangen wird und die thematisiert werden können. Angefangen von der Entstehung dieser Störungen, über die Aufrechterhaltung durch das Vermeide-, Sicherheitsverhalten bis hin zum Lernprozess der Patienten in der Expositionstherapie gibt es gemeinsame Faktoren über die einzelnen Störungsbilder hinweg, die bei einer expositionsbasierten Behandlung berücksichtigt werden sollten. Dies und neue Studien zu Wirksamkeitsmechanismen der Exposition, welche die Bedeutung des Inhibitionslernens zeigen, führen zu einem modifizierten Verständnis von Expositionsmethoden im Vergleich zu vor 20, 30 Jahren.
Frage: Wie organisieren Sie in Ihrem Praxisalltag die Durchführung von mehreren Sitzungen Exposition am Stück?
Dr. Peter Neudeck: Ich verabrede mich mit dem Patienten vorab entweder in der Praxis oder an einem anderen Standort. Dort werden die Expositionsübungen durchgeführt. Für den Schwierigkeitsgrad der Übungen gilt: „meet the patient where he is“ Ich habe mit den Patienten zuvor abgesprochen, welche Übungen wir vorhaben. Sollte die Hürde zu hoch sein, der Patient die Übungen nicht schaffen, habe ich eine besser zu bewältigende Übungen bereits im Kopf, damit der Patient nicht frustriert und demoralisiert aus der Übung geht. Dieser Übungsteil kann über drei Behandlungseinheiten gehen. Nach dem Übungsteil besprechen wir diesen im Nachgang, er wird evaluiert. Ich bitte den Patienten sich nach den Übungen an diesem Tag nichts mehr vorzunehmen, damit er im Selbstmanagement das Gelernte vertieft und wiederholt. Patienten sollen Experten ihrer eigenen Exposition werden und selbstständig üben. Ich organisiere das so, dass ich zum Beispiel die erste Übung für Donnerstagnachmittag, dann eine zweite therapeutenbegleitete Übung für Freitag ansetze und der Patient Samstag, Sonntag alleine weiter übt. Am Montag ziehen wir eine Zwischenbilanz, darauf folgen nochmals drei Tage im Selbstmanagement üben und darauf folgt nochmals eine therapeutenbegleitete Übung. Das ist für den Lernerfolg wichtig, dass man am Anfang intensiv einsteigt und der Patient im Selbstmanagement weiterlernt. Therapeutenbegleitete Exposition bedeutet auch, dass die Patienten lernen sich richtig zu exponieren, d.h. eine Expertenexposition selbst durchführen können.
Frage: Können Sie an einem konkreten Beispiel benennen, welche Neuerungen der Blick auf das Inhibitionslernen als Wirkmechanismus für die therapeutische Praxis mit sich bringt?
Dr. Peter Neudeck: Ich erkläre das jetzt mal möglichst plakativ. Der Fall: Für einen Patienten plane ich eine Höhen-Exposition und der Patient hat die Befürchtung, dass er die Angst nicht aushält und runterfallen könnte. Dann würde man mit einem dem Habituationskonzept verpflichteten Vorgehen in die Situation hineingehen und den Patienten instruieren, dass die Angst ansteigt und dann von selbst wieder nachlässt. Dazu soll eine möglichst hohe Angststärke erreicht werden. Berücksichtigt man die Studien zum Inhibitionslernen würde man mit dem Patienten in die Situation hineingehen und viel mehr auf die subjektiven Befürchtungen fokussieren, weniger auf die Angststärke. Es ist gar nicht notwendig, dass die Angst ein starkes Maß annimmt. Beim Habituationskonzept würde man sagen: Versuchen sie so viel Angst wie möglich zu bekommen. Schon allein das ist als Instruktion für viele Patienten und Therapeuten sehr aversiv. Nach dem Inhibitionskonzept müssen wir das gar nicht. Da schauen wir uns die Befürchtungen an, ob sie tatsächlich die Kontrolle verlieren und aus der Höhe abstürzen. Das Augenmerk liegt darauf, die Angst nicht zu vermeiden, sondern die aversiven körperlichen Symptome und die Emotionen zu tolerieren und die zentrale Befürchtung zu überprüfen.. Wie stark dann die Angstausprägung sein wird, das steht hinten an, das ist nicht entscheidend. Weiterhin würden wir sofort danach eine Variation des Reizes durchführen. Zum Beispiel würden wir in der ersten Situation auf der Brücke stehen, in der zweiten Situation ist es dann ein Turm, den wir besteigen. Wir können auch den Kontext variieren, durch eine Situation, die eher belebt ist. Wir würden es morgens oder nachmittags gleichermaßen üben. Man kann also sagen: Das Inhibitionskonzept modifiziert und ergänzt unser Wissen über die Exposition. Habiutation scheint keineswegs der alleinige und entscheidende Wirkmechanismus zu sein.
Das Inhibitionslernen wird sehr häufig in der psychotherapeutischen Praxis durch die Kollegen angewandt. Mit anderen Worten: Sie machen es schon lange richtig, benennen es nur nicht so. Zum Beispiel gehört auch das Unterbinden von Vermeideverhalten dazu. Dies ist allen bekannt und wir wissen, dass das einen großen Effekt hat, die wenigsten würden es jedoch mit Inhibitionslernen in Verbindung bringen. Oder Abrufhinweise: Patienten haben eine Expositionsübung gut bewältigt und machen ein Selfie dabei von sich, das sie dem Therapeuten schicken oder sie schicken eine Postkarten an Verwandte. Das erhöht die Erinnerung.
Nach dem Inhibitionskonzept gibt es eine ganze Menge an Optimierungsstrategien: so z.B. die Variation von Kontexten, von Reizen, Abrufhinweisen, verstärkte, vertiefte Extinktionen, bzw. vertieftes Lernen in der Exposition, bei der zwei verschiedene Angstreize zusammengeführt werden, wie Enge und Höhe. Das hat eine Menge an Implikationen für die psychotherapeutische Praxis.
Frage: Welche Verbesserungen sind durch solche Maßnahmen für die Patienten erreichbar?
Dr. Peter Neudeck: Schon in der Vorbereitung ist es nicht so aversiv. Die Botschaft lautet nicht: Hab so viel Angst wie möglich und mache dir so viel Angst wie möglich. Sondern die Botschaft lautet: Investiere in deine Angst, um ein ruhigeres Leben zu haben. Und die Verbesserungen für die Patienten sind diese, dass der Transfer über verschiedene Situationen leichter wird. Das ist genau das, was wir in der großen BMBF -Studie, der PROTECT_AD-Studie, eine Multicenter -Studie hier in Deutschland untersuchen. Dazu haben wir in Köln jetzt ein Studienzentrum aufgebaut. In einer für alle Angststörungen und komorbiden Störungen entwickelten Behandlung setzen wir genau diese Inhibitionsmechanismen um und schauen wie unsere Patienten davon profitieren. Das hat genau dieses Inhibitionslernen zum Thema.
Der Workshop von Dr. Peter Neudeck findet am Freitag, 17.März 2017 ab 14.30 Uhr bis 16.00 Uhr (Teil I) und von 16.45 Uhr bis 18.15 (Teil II) statt.