„Dies ist von ehrenamtlichen, gutwilligen Menschen nicht mehr zu stemmen.“Ein Gespräch über die Erfahrungen einer Psychotherapeutin in der Flüchtlingsversorgung In Sachsen-Anhalt

Frage: Wo und wie waren Sie in der Flüchtlingsversorgung psychotherapeutisch tätig?

Beate Caspar: Die ersten Anfragen zur Betreuung von Flüchtlingen kamen Anfang bis Mitte dieses Jahres über das psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge und Migranten in Halle. Ebenso haben mich freie Träger, z.B. die Caritas, oder andere Netzwerke im Burgenlandkreis, in die auch mein Mann als Flüchtlingskoordinator eingebunden ist, angefragt, ob ich die psychotherapeutische Betreuung von Flüchtlingen übernehmen kann. Das habe ich gern getan. Das ist über die Praxis gelaufen und läuft noch. Es sind zum großen Teil Langzeittherapien geworden, die sehr umständlich beantragt, aber letzten Endes auch genehmigt wurden sind.
Für die Arbeit in den Gemeinschaftsunterkünften, die erst seit acht bis zehn Wochen eingerichtet sind, hat es von der Ausländerbehörde in Naumburg öfter Anfragen zu Kriseninterventionsgesprächen gegeben. Eine andere Arbeit ist dort leider auch nicht möglich.

Frage: Wie schätzen Sie die Arbeit in diesen Erstaufnahmecamps ein? Man kann leicht das Gefühl bekommen, dass sich jetzt sehr viele Professionen darauf stürzen, dort schnell Einzug zu halten. Erfahrene bremsen hingegen den Aktionismus und warnen, dass außer Stabilisierung dort nicht mehr möglich ist.

Beate Caspar: Das sehe ich genauso. Im Coaching von ehrenamtlichen Helfern legen wir das Augenmerk immer zuerst auf eine erste Stabilisierung. Wir besprechen im Vorgehen, dass bitte zuerst Grenzen und Möglichkeiten aufzuzeigen, Kontakte herzustellen sind. Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz ist sehr wertvoll, weil darüber der Suchdienst und die Kontakte zu den Botschaften laufen, gerade wenn die Familien getrennt sind. Diese Themen sind für uns schwierig zu bewältigen und bedürfen für die Menschen in den Unterkünften einer ersten Klärung. In den Zentralen Aufnahmestellen ist kaum eine Arbeit möglich. Das ist schon allein den räumlichen Bedingungen dort geschuldet, weil sie keinerlei Privatsphäre zulassen. Und insofern sind die ehrenamtlichen Helfer gut beraten, wenn sie erste Kontaktmöglichkeiten für weitere Hilfe anbieten.
Die medizinische Versorgung der Ankommenden hat generell Vorrang, weil die Menschen zumeist körperlich auch in einem schlechten Zustand sind. In Sachsen-Anhalt ist es so, dass die Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber raus aus den Zentralen Aufnahmestellen auf die Landkreisebene sehr schnell passieren soll, so dass die Netzwerke und Aktionsbündnisse der Ehrenamtlichen in den Gemeinschaftsunterkünften viel direkter und intensiver tätig werden können. Das halte ich auch für sinnvoll.

 

Diplom-Psychologin Beate Caspar

Frau Caspar (2)
  • 1973-1977 Studium der Psychologie, Friedrich-Schiller-Universität zu Jena
  • 1977 Diplom und Stattsexamen
  • 1981-1990 Trainerin für sozialpsychologisches Verhaltenstraining, Gesellschaft für Psychologie
  • 1983-1986 Fortbildung zur Fachpsychologin der Medizin, Kolloquium 18.11.1986
  • 1986  Hypnose- Ausbildung, Verhaltenstherapie- Ausbildung, Gesellschaft für Psychologie
  • 1983-1990 Leiterin der Regional- Arbeitsgemeinschaft Süd der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie
  • 1991 Niederlassung in eigener Praxis, Tätigkeitsschwerpunkte: Verhaltenstherapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Leistung, Intelligenz und Hirnschadensdiagnostik
  • seit 1991 Vorsitzende des Arbeitskreises niedergelassener Psychotherapeuten Sachsen- Anhalts e.V.
  • seit 1995 Mitglied im DPTV
  • 1999 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin
  • 2003-2007 Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK)
  • Februar 2013 Verleihung der Bundesverdienstmedaille

Frage: Kommen Flüchtlingsfrauen zu Ihnen?

Beate Caspar: Ja, gerade nach unserem Gespräch erwarte ich eine Romafrau, die ich seit Mai/Juni betreue. Und das hat nach sich gezogen, dass zwei syrische Frauen und eine Frau aus Mali bei uns Patientinnen sind. Auch von den ehrenamtlichen Helfern weiß ich, dass es viele Ideen gibt, wie man diesen Frauen Beschäftigung  und Gesprächskreise organisiert. Gerade für geflohene Frauen mit kleinen Kindern sind deutsche Frauen als Ansprechpartner sehr wichtig. Das haben wir im Burgenlandkreis so versucht, dass wir möglichst 1:1-Patenschaften für diese Frauen organisiert haben. Im Fokus sind wie gesagt Schwangere oder Frauen mit Säuglingen, kleinen Kindern. Unsere Erfahrungen sind diesbezüglich, was die physiopsychische Stabilisierung als auch die Integration angeht, wie schnell z.B. die Kinder in die Kindereinrichtungen gebracht werden, sehr gut.

Frage: Andersherum gefragt: Haben die Männer Probleme mit Ihnen als Frau und Psychotherapeutin?

Beate Caspar: Moslemische Männer haben damit Probleme, ja. Deshalb versuche ich so zeitig wie möglich zu klären, welcher Religion der Betroffene angehört. Ich bemühe mich für diese Fälle einen männlichen Therapeuten aufzutun oder wenigstens einen konstanten Dolmetscher. Das Problem mit den Dolmetschern ist ja, dass diese von der Ausländerbehörde jedes Mal neu bestellt werden. Während einer Therapie arbeiten wir dann mit vier oder fünf verschiedenen Dolmetschern. Das geht für mich überhaupt nicht. Gerade bei moslemischen, männlichen Ratsuchenden – so will ich es mal ganz vorsichtig ausdrücken – ist das ein außerordentlich sensibles Thema. Wir haben Gott sei Dank Kontakt zu einem pakistanischen Psychologen, der bei uns in der Gemeinschaftsunterkunft in Naumburg untergebracht ist. Er hatte sich zu Beginn als Dolmetscher angeboten, erfasst im Vorfeld die Konfession der Leute, woher sie kommen, welche Bildung sie haben. Er leistet eine ganz wertvolle Vorarbeit als eine Art Mentor im „menschlichen Screening-Verfahren“. Er erhält dort ganz viele Informationen von seinen Glaubensbrüdern, die wir außen natürlich nie erfahren würden.

Frage: Wie gestaltet sich überhaupt das Thema „Arbeit mit Übersetzern“ in Ihrer Praxis?

Beate Caspar: Das ist das aller, aller, aller schlimmste und ärgerlichste Thema für uns alle. Es ist in der Realität so, dass der Dolmetscher für jeden einzelnen Termin eines in Behandlung befindlichen Asylbewerbers bestellt werden muss. Das läuft über die Ausländerbehörde – so ist es bei uns im Landkreis. Ich versuche es so zu regeln, um auch meinen Aufwand gering zu halten, dass ich die Sozialarbeiter, die die jeweiligen Klienten betreuen, immer bitte, den Terminplan der Patienten im Auge zu haben. Es ist aber so, dass jeder einzelne Termin beantragt, genehmigt und dann bestellt werden muss. Das ist ein Unding. Von zehn Terminen klappen, wenn es gut geht, sechs. Bei vieren ist zwar der Patient da, aber kein Dolmetscher. Das ist ein riesengroßes Ärgernis, was zu Verstimmungen auf beiden Seiten sorgt. Das liegt an der völlig unklaren Rechtslage. Und das betrifft nicht nur die Psychotherapeuten. Von vielen Ärzten aus dem Burgenlandkreis weiß ich, dass diese sich weigern, Flüchtlinge zu behandeln, wenn keine Dolmetscher mit dabei sind. Bei einer gynäkologischen Praxis wäre es sinnvoll, wenn es ein weiblicher Dolmetscher ist. Dass sind Sachen, die scheitern regelmäßig.

Eine kleine Episode am Rand: Letzte Woche sollte eine geflohene indische Frau zur Geburtsvorbereitung ins Krankenhaus. Die Oberärztin hat sich geweigert, dass ohne Dolmetscher zu machen. Gott sei Dank war es eine indische Frau, die Englisch sprach. Also ging dann mein Mann mit zur Geburtsvorbereitung. Das ist jenseits von Gut und Böse. Die Frau war heilfroh, dass überhaupt jemand mitkam. Mein Mann erzählte, dass er Kinder und Enkelkinder hat und weiß, wie Geburt geht.

Frage: Es ist gigantisch, was Sie vor Ort für die Menschen stemmen und möglich machen.

Beate Caspar: Das ist mein Anliegen, dass ich hier kommunizieren möchte, was möglich ist durch Ehrenamtliche mit ihrem unglaublich großen Engagement und der kleinteiligen Arbeit auf Landkreisebene. Wir brauchen ganz schnell politische Bekenntnisse und Lösungen. Und die müssen von der Bundesebene kommen. Es reicht nicht mehr Fragestellungen auf die Länderebene runter zu transformieren und zu meinen, „ihr müsst euch vor Ort etwas einfallen lassen“. Wenn es ein politisches Willensbekenntnis der Bundesregierung gibt, nach dem Motto: „Wir schaffen das“, dann erwarte ich auch, dass es schnellstmöglich ganz konkrete Lösungen z. B. im Bereich der Gesundheitsversorgung gibt. Die rechtlichen und verfahrenstechnischen Regelungen, die im Moment unseren Alltag in der Flüchtlingsbetreuung bestimmen, sind nicht dazu geeignet, das abzusichern.

Frage: Sie sprechen es gerade an: Die Betreuung/Versorgung von Flüchtlingen läuft fast allein durch Ehrenamtliche. Politische Lösungen sind nicht in Sicht. Werden die Ehrenamtlichen gerade regelrecht verheizt? Und wie lange kann es so noch gehen?

Beate Caspar: Das war ganz am Anfang schon meine Sorge, wie das diese sehr engagierten, gutwilligen Menschen, die 12/14 Stunden arbeiten, wohl aushalten. Ganz konkret: Wie lange werden sie das aushalten und zudem wie lange werden sie die schrecklichen Geschichten aushalten, die sie täglich hören. Deshalb habe ich mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Weißenfels ein Angebot initiiert, dass sich die Helfer im Bedarfsfall bei mir zum Coaching, zur Beratung melden können. Das wird gern in Anspruch genommen. Es gibt Flüchtlingsinitiativen, die sich gut untereinander stützen. Aber, in jedem Landkreis der Bundesrepublik kommen jede Woche 50 bis 100 neue Flüchtlinge dazu. Und dies ist von ehrenamtlichen, gutwilligen Menschen nicht mehr zu stemmen. Damit sind wir vollkommen überfordert. Die Helfer sind physisch und psychisch am Ende. Und wenn die Politik jetzt nur darauf baut, dass wir ja so wunderbare ehrenamtliche Kräfte haben und keine politische Lösung kommt, dann wird das Ganze in kürzester Zeit kippen.

Der zermürbende Hauptärger ist, dass die Helfer bei den Behörden und bei den administrativen Einrichtungen ständig gegen Wände laufen. Es fehlt an Unterstützung, nicht weil die Mitarbeiter dort es nicht wollen, sondern einfach weil die Regelungen, Durchführungsbestimmungen und Anweisungen nicht da sind. Da geht es zum Beispiel um die Wohnungssuche, wenn die Flüchtlinge aus den Gemeinschaftsunterkünften in Wohnungen vermittelt werden sollen. Das scheitert, weil zum Beispiel ein Flüchtlingspate nach vier Anläufen eine Wohnung für ein Flüchtlingspaar gefunden hat, diese aber abgelehnt wird, weil die Wohnung in der Miete acht Euro zu teuer ist.

Und deshalb bleibt das Paar dann in der Gemeinschaftsunterkunft. Dass der Pate dann völlig gefrustet ist, ist absolut klar. Deshalb noch mal mein Hinweis, es braucht jetzt klare Anweisungen, die für die Ehrenamtlichen nachvollziehbar sind. Ich würde mir auch wünschen, dass kompetente Flüchtlinge in den Gemeinschaftsunterkünften als auch in den einzelnen Wohnformen in die Arbeit mit einbezogen und in irgendeiner Form auch honoriert werden können. Das würde ich für eine ganz wichtige Entlastung halten. Die Menschen brauchen für die Verantwortung, die sie übernehmen – und die Verantwortung ist riesengroß – den entsprechenden Rückhalt, dass das, was sie tun rechtens und abgesichert ist.

Es ist mittlerweile schizophren, dass man Menschen zu Zivilcourage und zur Hilfe auffordert, diese dann aber nicht rechtlich für ihre schwere Arbeit absichert. Das kann nicht nur ein moralisches Bekenntnis der Politik bleiben.

Frage: Kommen wir noch einmal zur Psychotherapie zurück. Welche Strukturen brauchen sie generell, um überhaupt eine psychotherapeutische Versorgung zu gewährleisten?

Beate Caspar: Das Ideale für mich wäre, dass es eine bundesweite Gesundheitskarte für die Flüchtlinge gibt, mit erweiterten Leistungen. Im Moment ist nur eine Akutversorgung und eine Schmerzbekämpfung möglich ist. Für die Psychotherapie bedürfte es auch wieder einer Rechtssicherheit, in der steht, was geleistet werden darf. Das kann nicht sein, dass ich für jede Psychotherapie mit der Mitarbeiterin der Ausländerbehörde erst zwei-, dreimal lange telefonieren muss, um ihr zu erklären, was jetzt zu tun ist und warum das notwendig ist. Das ist auch für die Flüchtlinge diskreditierend, wenn sie da bitten und betteln müssen um eine Sache, die völlig klar und notwendig ist.

Frage: Wenn Sie in die Zukunft schauen, können Sie das in dem Bewusstsein tun, dass politisch in jedem Fall etwas passieren muss? Die Situation wird immer brenzlicher, ein aus-der-Verantwortung-stehlen kann es nicht mehr geben? Oder sind Sie besorgt?

Beate Caspar: Die ehrenamtliche Arbeit stößt gerade an ihre Grenzen. Meine Sorge ist, dass die Helfer auch nicht mehr motiviert sind, weil der Kraftakt schon zu lange dauert, ohne dass starke Unterstützung naht. Meine Hoffnung ist, da ich immer Optimist bin, ist, dass es politisch eine Willensbildung gibt, die es uns ermöglicht, eine qualifizierte Versorgung anzubieten. Der Druck auf die Bundesregierung ist jetzt sehr groß. Dieser kommt von den unterschiedlichen Verbänden und Professionen. Von daher hoffe ich auf ein sinnvolles, handhabbares Modell. Sollte es nicht so sein, dann müssen wir weiter unsere Stimme erheben, um die berechtigten Interessen der Asylbewerber zu unterstützen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Dann müssen wir wie zu Zeiten der Einführung des Psychotherapeutengesetzes arbeiten und direkt mit den Bundestagsabgeordneten sprechen mit der Bitte, sich im Bundestag dafür einzusetzen.

Frage: Wenn Sie auf die Arbeit in Ihrer Praxis schauen, wie rechnen Sie ab? Wie viel Prozent der Flüchtlinge macht mittlerweile die Zahl Ihrer Patienten aus?

Beate Caspar: Ich würde sagen zwischen 15 und 20 Prozent der Patienten sind Flüchtlinge. Das Abrechnungsprozedere ist einfach nur nervig und läuft über die Krankenbehandlungsscheine. Dafür braucht es ebenso einen intensiven Kontakt zur Kassenärztlichen Vereinigung. Die KV möchte nämlich wissen, warum das im Einzelfall so gemacht wird. Der Krankenbehandlungsschein muss quartalsgenau ausgefüllt sein, die Ausländerbehörde muss die beantragten Leistungen genehmigt haben, das Foto muss drauf sein, die Aufenthaltsgenehmigung muss da sein. Das ist alles genauestens vorzulegen. Das ist für mich nur deshalb möglich, weil ich eine Mitarbeiterin in meiner Praxis habe, die das für mich größtenteils abfängt.

Frage: Wenn man Sie hört, wird einem klar, dass ohne eine gute Vernetzung, ohne den guten Draht in die Ämter gar nichts geht. Sie müssen die Ehrenamtlichen kennen, Sie müssen in den Gemeinschaftsunterkünften präsent sein. Allein die Vernetzungsarbeit ist schon immens.

Beate Caspar: Ja, ich denke, darin liegt die einzige Chance. Es bedarf einer sehr intensiven Vernetzung zwischen den professionellen, den administrativen und den ehrenamtlichen Begleitern der Flüchtlinge. Was ich mir wünschen würde, ist, dass zumindest auf den Landkreisebenen eine starke Vernetzung entsteht und natürlich auch bundeslandweit. Das könnte 2016 Realität werden. Das würde es unbedingt brauchen.