„Selbstbestimmung bis zum Schluss!? Zur aktuellen Debatte um den assistierten Suizid“ und die Rolle psychotherapeutischer Begleitung dabeiEin Gespräch mit Medizinethiker Professor Dr. phil. Alfred Simon

Frage: Der Titel Ihres Vortrages ist „Selbstbestimmung bis zum Schluss!?“ mit Ausrufe- und Fragezeichen. Warum mit Fragezeichen? Wir planen die Art und Weise der Geburt unserer Kinder, den Tag, welche Personen dabei sind, wo sie stattfindet etc. Und am Ende des Lebens soll dies nun anders sein? Zu Sterben ist ein sehr persönlicher, privater Moment, über den Menschen sicher auch gern entscheiden wollen, wie er passiert. Warum ist es ein so problematisches Thema?

Prof. Dr. phil. Alfred Simon: Mit Ausrufezeichen deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass das Recht auf Selbstbestimmung auch die Möglichkeit des Suizids und der Inanspruchnahme von Suizidhilfe einschließt, und der Ruf danach in Zukunft verstärkt erfolgen wird. Fragezeichen deshalb, weil das Thema in unserer Gesellschaft immer noch sehr kontrovers diskutiert wird. Auf der Fahrt hierher habe ich zum Beispiel einen juristischen Beitrag gelesen, der sich mit der Möglichkeit des Verbots der Suizidhilfe in katholischen Pflegeeinrichtungen beschäftigt. Natürlich können Pflegeheime und deren Mitarbeitende eine Suizidhilfe ablehnen. Der Autor des Beitrags vertritt aber die Ansicht, dass die Einrichtungen mittels Hausverboten ihren Bewohner:innen verbieten können, Suizidhilfe durch außenstehende Dritte in Anspruch zu nehmen. Dies würde bedeuten, dass sterbewillige Personen entweder auf ihr Recht auf einen selbststimmte Sterben verzichten oder dafür die Einrichtung – d.h. ihre Wohnung und vertraute Umgebung – verlassen müssten. Wenn katholische Einrichtungen dies so umsetzen, fände ich das ethisch hoch problematisch.

Wie sieht gerade die rechtliche Lage zum assistierten Suizid aus?

Prof. Simon: Im Moment haben wir die Situation von vor 2015, das heißt, es gibt keine strafrechtliche Regelung. Dies wiederum bedeutet, dass die Hilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid zulässig ist. Ein Problem besteht jedoch in der Tatsache, dass es Einschränkungen beim Betäubungsrecht gibt: Das Betäubungsrecht sieht nämlich vor, dass Betäubungsmittel nur aus therapeutischen Gründen verschrieben werden dürfen. Die meisten Juristen vertreten die Ansicht, dass es einer gesetzlichen Änderung bedarf, damit Betäubungsmittel auch zum Zwecke des Suizids ausgehändigt werden dürfen.

Ein wesentlicher Unterschied zu 2015 besteht jedoch in der Tatsache, dass wir nun eine höchstrichterliche Klärung haben, was die Möglichkeit des Suizids und der Inanspruchnahme freiwillig geleisteter Suizidhilfe haben.

Im internationalen Vergleich gesehen: In den Ländern, in denen Tötung auf Verlangen oder der assistierte Suizid erlaubt sind, gehen die Zahlen in den letzten Jahren nach oben. Ist das eine Entwicklung, auf die Deutschland reagieren muss?

Prof. Simon: Die Anzahl der Fälle von assistiertem Suizid oder auch von Tötung auf Verlangen ist in allen Ländern, in denen diese Formen der Sterbehilfe zulässig sind, in den letzten Jahren angestiegen. In manchen Ländern deutlich, in anderen weniger stark. Die Frage ist nun, wie man diese Zahlen interpretiert. Kritiker sehen in dem Anstieg den von ihnen befürchteten Dammbruch, Befürworter wiederum sehen darin eine ganz normale gesellschaftliche Entwicklung. Auffällig sind die Zahlen in den Niederlanden: Dort sind knapp 5 Prozent aller Todesfälle auf eine Tötung auf Verlangen zurückzuführen gewesen – mit einer über die letzten Jahre hinweg stark steigenden Tendenz, während der Anteil der Fälle von assistiertem Suizid über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg fast unverändert bei 0,3 bis 0,4 Prozent aller Todesfälle lag. Daraus folgt für mich: Wenn man den Bürgern beide Möglichkeiten der Sterbehilfe anbietet, werden diese eher die Tötung auf Verlangen wählen.

Herr Professor Simon, könnten Sie bitte die Begriffe „assistierter Suizid“ und „Tötung auf Verlangen“ definieren!

Prof. Simon: Bei der Tötung auf Verlangen tötet der Sterbehelfer die suizidwillige Person auf deren Wunsch, zum Beispiel durch das Spritzen eines tödlich wirkenden Medikaments. Beim assistierten Suizid stellt der Sterbehilfe nur das tödliche Medikament zur Verfügung, das von der suizidwilligen Person dann selbst eingenommen wird. Eine Suizidhilfe kann aber auch in der konkreten Anleitung zur Suizidplanung oder im Zurverfügungstellen geeigneter Räumlichkeiten für den Suizid bestehen.

Für Psychotherapeuten tritt dieses Thema nun verstärkt in den Vordergrund.

Prof. Simon: Psychotherapeuten spielen aus meiner Sicht eine wichtige Rolle für die Menschen, die am Leben leiden und dieses Leben selbst beenden wollen. Da geht es zunächst darum, die Gründe für dieses Leid zu erkunden, um den Menschen eine Perspektive zum Weiterleben anbieten zu könne. Suizidprävention hat für mich absolut Vorrang. Niemand sollte Suizidhilfe bekommen, solange er nicht über mögliche Alternativen informiert ist. Wenn der Suizidwunsch trotz Kenntnis der Alternativen weiterbesteht, geht es darum herauszufinden, ob der Suizidwunsch wohlerwogen, frei und dauerhaft ist – und nicht bloß Ausdruck einer vorübergehenden Krise oder das Ergebnis eines äußeren oder inneren Zwanges. Ist die Entscheidung freiverantwortlich, ist sie zu respektieren. Ob ich dem Menschen dann bei der Umsetzung des Suizidwunsches helfe, ist eine persönliche Gewissensentscheidung. Niemand ist zur Suizidhilfe verpflichtet. Ungeachtet dessen sehe ich aber eine moralische Verpflichtung, den Menschen weiterhin zu begleiten.

Es gibt aktuell drei Gesetzesentwürfe, die zur Neuregelung der Suizidhilfe vorgelegt wurden. Worin unterscheiden die sich? Sind erste Impulse wahrnehmbar, wohin die Reise damit gehen könnte?

Prof. Simon: Ein Entwurf sieht die Wiedereinführung des alten § 217 StGB, also des Verbots der geschäftsmäßigen, auf Wiederholung hin angelegten Suizidhilfe vor – allerdings mit definierten Ausnahmen, zu denen u.a. zwei psychiatrische Begutachtungen im Abstand von mindesten drei Monaten sowie ein weiteres Beratungsgespräch gehören. Die beiden anderen Entwürfe streben keine strafrechtliche Regelung an, sondern definieren die Voraussetzungen, unter denen einer sterbewilligen Person ein Mittel zum Suizid verschreiben werden darf. Die Autor:innen dieser beiden Entwürfe haben auch angekündigt, einen gemeinsamen Entwurf zu erarbeiten. Dieser ist allerdings noch nicht veröffentlicht. (Am 13. Juni wurde der zusammengeführte Gesetzesentwurf von Helling-Plahr und Künast in einer Bundespressekonferenz vorgestellt. Hier der Text zum Gesetzesentwurf: Link;  Der Entwurf des Abgeordneten Castelluci et al. wurde bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht und ist hier zu finden. Anmerkung der Redaktion)
Bei allen Entwürfen handelt es sich um parteiübergreifende Entwürfe.

Worin sehen Sie die gesellschaftliche Herausforderung als Befürworter der Suizidhilfe?

Prof. Simon: Die Achtung des Selbstbestimmungsrechts gebietet, dass wir den wohlüberlegten und freien Wunsch, das eigene Leben durch Suizid zu beenden, respektieren, und sterbewilligen Menschen die dafür erforderlichen Möglichkeiten nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zur Verfügung stellen. Zugleich müssen wir uns bewusst sein, dass eine akzeptierte Praxis der Suizidhilfe dazu führen wird, dass eine gewisse gesellschaftliche Normalisierung eintreten wird, die natürlich auch Gefahren birgt. Menschen könnten sich zum Beispiel unter Druck gesetzt fühlen, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, obwohl sie das gar nicht möchten. Ein solcher Druck kann auch sehr subtil erfolgen, zum Beispiel mit der Frage: „Warum tust du dir das noch an? Jetzt hast du doch die Möglichkeit, deinen Arzt um ein Medikament zu bitten, mit dem du dein Leid beenden kannst.“ Beides sind für mich Gründe, warum ich der Meinung bin, dass wir eine gesetzliche Regelung brauchen, auch wenn mich keiner der bisherigen Entwürfe wirklich überzeugt. Darüber hinaus sollten die psychotherapeutischen und palliativen Hilfsmöglichkeiten weiter ausgebaut werden, damit Menschen, die an ihrem Leben leiden, rasch und unkompliziert Hilfe bekommen.

 

Zur Person: Prof. Dr. phil. Alfred Simon studierte Philosophie und Psychologie in St. Pölten und Wien. Seit 1996 ist er Geschäftsführer der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen. 2008 habilitierte er an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen zu ethischen Fragen medizinischer Entscheidungen am Lebensende. Er ist Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees der Universitätsmedizin Göttingen und Mitglied in verschiedenen Gremien, u.a. im Ausschuss für ethische medizinisch-juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer. Sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klinischen Ethik (z.B. ethische Fragen der Patientenselbstbestimmung, der Sterbehilfe und Sterbebegleitung, der Transplantationsmedizin oder der Psychiatrie).