„Kinder brauchen mehr – Jugend braucht mehr“Fachtagung zu psychischen Belastungen infolge der Corona-Pandemie

In unseren psychotherapeutischen Praxen und Arbeitsfeldern spüren wir täglich, in welcher Not sich die Kinder und Familien durch die Lockdownphasen und die Coronapandemie befinden. Nun gilt es, Behandlungs- und Hilfebedarf der Kinder und Familien zu lokalisieren und entsprechende Maßnahmen in die Versorgung zu implementieren. Die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutischer Behandlung hat im ersten Halbjahr 2021 laut dem Zentralinstitut für die kassenärztlichen Versorgung in Deutschland (ZI) spürbar zugenommen. (ZI Trendreport 27.10.2021).

Frau Professor Dr. phil. Stefanie Schmidt (Universität Bern) referierte über aktuelle Forschungsergebnisse zur Thematik. Sie verdeutlichte, dass 60 % der psychischen Störungen im Kindesalter bis ins Erwachsenenalter persistieren, wenn eine Behandlung nicht innerhalb von sechs Monaten beginnen kann. Als besondere Herausforderung für Kinder und Jugendliche nannte sie das Zusammenbrechen der sozialen Netzwerke, was bei vielen Kindern und Jugendliche Einsamkeitsgefühle hervorgerufen hätte. Familiensysteme seien durch Homeschooling und -office überlastet, in Familien und bei Jugendlichen hätten Zukunftsängste zugenommen, die Eltern-Kind-Interaktion sei teilweise schwierig geworden durch „Crowding“ auf z.B. engem Wohnraum und Ehe- bzw. Paarkonflikte. Weiterhin seien höhere Raten an elterlichen Burnout bekannt, sowie eine erhöhte Anzahl von Kindesmisshandlung. Ängste um das Leben von Angehörigen und nicht adäquate Trauerprozesse um Verstorbene seien weitere Belastungsfaktoren. Kleinere Kinder, die in der Forschung oft wenig betrachtet werden, hätten oft Schwierigkeiten, die komplexen Informationen zur Pandemie zu verstehen, würden aber die Sorge der Eltern spüren. Alle Studienergebnisse deuteten in allen Altersgruppen auf eine deutliche Zunahme der psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen hin. Bei den ein- bis sechsjährigen Kindern zeigte sich eine besondere Zunahme im Bereich von Angst, Affektivität und Oppositionell-trotzigem Verhalten, bei den 7- bis 19-jährigen Angst und Rückzug gepaart mit Depression und aggressives Verhalten. Besonders bei Jugendlichen Probanden zeigte sich jedoch auch eine Gruppe von Jugendlichen, in der Belastungsfaktoren abgenommen hatten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Herausforderungen der Orientierung im Alltag, Peergruppe und Schule reduziert waren. Als Risikofaktoren konnten geschiedene Eltern, psychische Erkrankungen in der Familie, chronische körperliche Erkrankung bereits vor Corona und belastende Lebensereignisse wie Umzug, Todesfälle, deutliche Veränderung der finanziellen Situation der Familie, ernsthafte Erkrankungen oder auch ein Stellenwechsel der Eltern eruiert werden. Die Herausforderungen in der Versorgung der Kinder und Jugendlichen werden, so die aktuelle Einschätzung, je nach Phase der Pandemie und der Rückkehr zur Normalität verschieden sein. So ist durchaus zu erwarten, dass bei Rückkehr zur Schule und Alltagsbelastung der Behandlungsbedarf steigen wird.

Frau Dipl.-Psych., Dr. phil. Johanna Thünker beschäftigte sich in ihrem Fachvortrag mit Maßnahmen, die getroffen werden müssen im Spannungsfeld zwischen Versorgung, Recht, Politik und Wissenschaft. Während kleinere Kinder überwiegend in ihrer Familie Hilfe suchen, wenden sich Jugendliche häufig mehr an Peers oder auch Lehrer. Einer nachweisbar gestiegenen Anzahl an Anfragen auf Psychotherapie an die Praxen steht eine schon vor der Pandemie bekannte Wartezeit auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz gegenüber. Besondere Herausforderungen stellen sich für spezielle Gruppen von Kindern und Jugendlichen wie Kindern mit Migrationshintergrund, Behinderungen, Kinder aus finanzschwachen Haushalten, Opfern häuslicher Gewalt oder auch jugendlichen Patienten mit Long-Covid-Folgen. Zentrale Erkenntnis ist, das da, wo es Behandlungsangebote gibt, diese auch in Anspruch genommen werden. Die schon vor der Pandemie bestehende Wartezeitsituation verschärft sich jedoch aufgrund der gestiegenen Anfragen deutlich, wodurch das Risiko der Prävalenz auf Lebenszeit steigt. Bei psychiatrischem und
psychotherapeutischen Hilfebedarf müssen Kinder und Jugendliche so schnell wie möglich notwendige Leistungen erhalten: „Bei steigendem Behandlungsbedarf haben die KVen und die KBV die ambulante Versorgung sicherzustellen […].” Gemeinsamer Bericht BMG und BMFSFJ, 30. Juni 2021 (20) Im Psychotherapeutischen Alltag ergibt sich die Notwendigkeit, einerseits sensibel für coronaspezifische Problematiken zu sein. Für einige Patienten wäre sicherlich die Bereitstellung auch niedrigschwelliger Angebote wie z.B. gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung hilfreich, (Pädagogische) Fachkräfte brauchen Input im Erkennen von und Umgang mit Post-/Long-COVID, Familien brauchen Beratung über und Verordnung von Reha-Maßnahmen wo indiziert. Ggf. braucht es auch eine Erweiterung der Versorgungskapazitäten durch z.B. Anträge auf Ermächtigung oder Sonderbedarf, ein Weg, den manche KV`en schon bestreiten. Psychotherapeutische Expertise ist in der aktuellen Situation noch einmal mehr gefragt im Bereich der Diagnostik, der Früherkennung der Schulung von Fachkräften, bei Primär-und Sekundärinterventionen und in der Forschung.

Frau Dipl. Soz-Päd. Ariadne Sartorius (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin) referierte die aktuellen Fördermaßnahmen zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch die Politik. Hierzu wurden im Vorfeld der Veranstaltung die Gesundheits- und Familienministerien der Länder und des Bundes mit den folgenden Fragestellungen angeschrieben:

Fragenkomplex 1: Was ist das Vorgehen der Ministerien, um die Folgen der Pandemie
für Kinder, Jugendliche und Eltern abzumildern?
a) Welche konkreten Förderprogramme wurden für welche Zielgruppen ermöglicht?
b) Welche finanziellen Mittel wurden hierfür abgerufen?
c) Gibt es eine Bestandsaufnahme der Angebote und sind diese evaluiert worden?
d) Welche Zielgruppen konnten bisher nicht erreicht werden?
Fragenkomplex 2: Was haben die Ministerien aus der Pandemie gelernt? Welche Konzepte wurden entwickelt und vorbereitet für den Fall einer späteren, weiteren Pandemie?
Fragenkomplex 3: Wie gewährleisten Ministerien eine langfristige Förderung insbesondere von Kindern aus Familien mit weniger sozialen und finanziellen Ressourcen? Welche Umsetzungsideen gibt es, welche stehen ggf. kurz vor der Umsetzung ?

Hier gab es ein breites Spektrum an Rückmeldungen durch die Ministerien, die auf ein breites Maßnahmenpaket in Bund und Ländern hinweisen. Angebote beziehen sich auf Freizeit und Bildung, Digitalisierung und Prävention, auch die Regierungen haben festgestellt, dass neben Bildungsdefiziten bei Kindern und Jugendlichen psychische Probleme offensichtlich zugenommen haben. Bei psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfebedarf müssen Kinder so schnell wie möglich Hilfe erhalten, so die Bundesregierung, zuständig für die Versorgung sei die kassenärztliche Bundesvereinigung. Besonders belastete Kinder und Familien müssten schnellstmöglich identifiziert werden und Hilfe erhalten, so auch das Fazit der interministeriellen Arbeitsgruppe von Bund und Ländern. Zur Sicherstellung ausreichender psychotherapeutischer Versorgung wird auch auf bestehende Instrumentarien, wie den Vergütungszuschlag zur Übernahme von Patienten durch die Terminservicestelle, sowie die neu zur Verfügung stehende Gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung hingewiesen. Problematisch aus unserer Sicht hierbei, dass dies keine neuen Behandlungsplätze schafft, schon vorher die Praxen an der Kapazitätsgrenze gearbeitet haben. Auch führen bisher wenige Praxen Gruppenpsychotherapeutische Angebote durch, einerseits ist die Zusammenstellung von passgenauen Gruppenangeboten nicht immer einfach, andererseits verfügen auch viele Kollegen nicht über die Abrechnungserlaubnis für Gruppenpsychotherapie. Die Rückmeldungen aus den Bundesländern zeigen ein breit gefächertes Maßnahmenpaket aus den Bereichen Bildung, Freizeit, Prävention, Digitalisierung, zum Teil soll auch im Bereich der Beratungsstellen zusätzliche Kapazitäten geschaffen werden, was durchaus den Druck auf die psychotherapeutischen Praxen reduzieren könnte. In der Zusammenschau der Maßnahmen wird zwar deutlich, dass es große Geldbeträge und viele Programme gibt, heruntergebrochen scheint es jedoch so, dass für einzelne Maßnahmen und Gebiete nach wie vor das Angebot nicht reicht. So waren Angebote von Familienfreizeiten sehr schnell ausgebucht, die Versorgung in strukturschwachen Regionen scheint weiterhin schwierig, Familien mit wenig Ressourcen werden möglicherweise nach wie vor schlecht erreicht, obwohl gerade hier die Kinder besonders gefährdet sind. Notwendig erscheint es, zielgruppenspezifische Studien durchzuführen, ob tatsächlich die bedürftigen Kinder und Jugendlichen erreicht wurden, Best-Practice-Beispiele zu sammeln und übersichtlich und gesammelt Angebote zu veröffentlichen.

In der anschließenden Podiumsdiskussion (Dipl.-Psych. Heiko Borchers,( Kammerpräsident PK
Schleswig-Holstein), Prof. Dr. Beate Leinberger (KJP), Dr. Bernhard Gibis (Dezernent des Geschäftsbereiches Sicherstellung und Versorgungsstruktur, KBV), Dr. Petra Kapaun (Kinder- und Jugendärztin), Dr. Reinhard Martens (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie), Anja Karliczek (CDU, Bundesministerin für Bildung und Forschung) wurden die zuvor vorgetragenen Aspekte in konstruktivem Austausch diskutiert. So forderte Herr Borchers vehement eine Verbesserung der Versorgung durch mehr Sitze für Psychotherapeuten. Frau Karliczek betonte, dass den Ministerien die Problematik deutlich sei und in der Corona Pandemie erstmals über mehrere Ministerien hinweg Lösungskonzepte gerade für Kinder und Jugendliche erarbeitet wurden. Herr Dr. Martens, der seine Praxis in Ostsachsen, einer strukturschwachen Region hat, stellte mögliche Konzepte zur Versorgung im ländlichen Raum dar und betonte, dass die Kinder und Jugendlichen, die in der Pandemie einen hohen Beitrag für die Gesamtgesellschaft geleistet hätten, nun auch einen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung durch die Gesellschaft hätten. Frau Professor Dr. Leinberger betonte, dass, wenn Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mehr Vernetzungsarbeit im Sinne einer Komplexbehandlung leisten, eine bessere Kooperation im Interesse der Patienten mit der Jugendhilfe gestalten, sich dies auch in der Vergütung niederschlagen muss. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sollten für eine gute Versorgung auch die Möglichkeit haben, dorthin gehen zu können, wo Kinder und Jugendliche sich aufhalten und dort behandeln dürfen. Im Alltag werde auch immer wieder deutlich, dass strukturschwache Gebiete deutlich mehr psychosozialen Unterstützungsbedarf haben, aber weniger Geld. Hier wäre es gut, wenn die Politik gegensteuern würde. Frau Dr Kapaun wies darauf hin, dass es insgesamt wichtiger sei über Möglichkeiten als über Defizite zu sprechen, sie sehe in ihrer Kinderärztliche Praxis jeden Tag sehr viele Familien, die mit den Problemfolgen durch Corona zu kämpfen hätten. Herr Dr. Gibes äußerte, dass die Einzelpraxis möglicherweise ein Auslaufmodel sei, man Verbünde und Netzwerke brauche, wie in der in Planung befindlichen Richtlinie zur Komplexbehandlung bereits geplant.

Die Präsentationen zu den Vorträgen sowie Video-O-Töne von Kindern und Erwachsenen finden Sie unter: https://www.vpp.org/cms/kinder-brauchen-mehr-jugend-braucht-mehr