Frage: Sie waren für die BPtK in die Verhandlungen im Vorfeld der Richtlinienänderung involviert: Wie schwierig war es, die Position der Psychotherapeutenschaft zu vertreten? Was waren aus Ihrer Sicht die besonders heiklen Punkte?
Timo Harfst: Die BPtK war nicht an den Verhandlungen der Richtlinienänderung beteiligt. Die BPtK konnte aber im April dieses Jahres zu dem Beschlussentwurf des G-BA eine Stellungnahme abgeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es im Unterausschuss Psychotherapie schon lange und sehr komplexe Verhandlungen gegeben, die mit dem Beschlussentwurf bereits in einen weitreichenden Kompromiss gemündet waren. Unsere ausführliche Stellungnahme, die in Abstimmung mit den Landeskammern erarbeitet wurde, konnte daher auf den Beschluss des G-BA nur noch einen sehr geringen Einfluss nehmen. Aus den Tragenden Gründen zum Beschluss ist leider erkennbar, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit unserer Stellungnahme nur begrenzt stattgefunden hat. So heißt es hier an vielen Stellen, dass die Position der BPtK zur Kenntnis genommen, aber als kein Grund für eine Änderung des Beschlussentwurfs gesehen wurde.
Zu den heiklen Punkten: Bis zum Schluss stand die mögliche Verpflichtung der Psychotherapeuten zum Angebot von Sprechstunden im Raum. Dies war insbesondere eine Forderung der Patientenvertreter, aber auch die Krankenkassenvertreter ließen Sympathie für eine solche Verpflichtung erkennen. Im Rahmen des zwischen GKV-SV und KBV erzielten Gesamtkompromisses hat die Krankenkassenseite schlussendlich darauf verzichtet, diese zu fordern. Unsere Position war es, dass die Sprechstunde eine freiwillige Leistung der Psychotherapeuten sein sollte und nicht unisono alle Psychotherapeuten gezwungen werden, eine Sprechstunde anzubieten. Aus unserer Sicht ist dies auch nicht erforderlich. Mit der Gesamtkonstruktion des Zugangs zur Psychotherapie ausreichende Anreize gesetzt werden, dass Psychotherapeuten die Sprechstunde anbieten, wenn sie nicht auf die Zuweisung von Patienten durch andere Psychotherapeuten und Ärzte angewiesen sein zu möchten.
Ein weiterer Punkt, der bis zuletzt kontrovers diskutiert wurde, war die Frage der Antragspflicht versus Anzeigepflicht in der Kurzzeittherapie. Diese Thematik war zusätzlich vermischt mit dem Vorschlag der Krankenkassen die Kurzzeittherapie in zwei Abschnitte zu unterteilen. Mögliche Konsequenzen für die Honorierung der Kurzzeittherapie haben bei den Abwägungen zwischen Antragspflicht versus Anzeigepflicht für die KBV-Vertreter eine große Rolle gespielt. Deshalb ist es bei der Antragspflicht geblieben mit dem ungünstigen Nebeneffekt, dass für jeden Teil der Kurzzeittherapie ein gesonderter Antrag erforderlich ist und aufgrund des Prinzips „Genehmigen durch Schweigen“ gegebenenfalls Therapieunterbrechungen die Folge sein können. Hier muss man schauen, ob z.B. im Rahmen der Verhandlungen zu der Psychotherapie-Vereinbarung pragmatische Lösungen gefunden werden, die solche negativen Effekte vermeiden helfen.
Heikel im Sinne von kritisch sind aus unserer Sicht sicherlich auch die Regelungen zur Standarddokumentation oder zur Rezidivprophylaxe, aber auch da sind wir mit unserer fachlichen Argumentation leider ins Leere gelaufen. Dieser Teil des Kompromisses im G-BA war offenbar so fest geschnürt, dass über eine Korrektur dieser Regelungen nicht mehr ernsthaft diskutiert wurde.
Frage: Warum werden Sie in diesem ganzen Prozess so wenig gehört, wo Sie doch die Behandler sind und die größte Expertise darin mitbringen?
Timo Harfst: Die Psychotherapeuten sitzen sehr wohl auf Seiten der KBV bei den Beratungen im Unterausschuss Psychotherapie mit am Tisch und haben Ihre Vorstellungen eingebracht. Aber sie müssen sich eben auch mit den Vertretern der Krankenkassen einigen, die ihre spezifischen Interessen verfolgen, und berücksichtigen, wie die Unparteiischen im G-BA im Streitfall votieren und wie sich die Patientenvertretung positioniert.
Die Rolle der BPtK beschränkt sich hierbei zunächst auf das Stellungnahmeverfahren und das, was die BPtK jenseits der Beratungen im G-BA an Vorschlägen und Konzepten entwickelt und veröffentlicht. Im G-BA selbst sind die Einflussmöglichkeiten für die BPtK begrenzt, insbesondere wenn im Vorfeld bereits eine komplexe Kompromissbildung stattgefunden hat, an der sich keiner der Beteiligten mehr so richtig zu rütteln traut. Das würde ich aber gar nicht spezifisch auf unsere Berufsgruppe beziehen. Auf die Bundesärztekammer trifft dies letztlich genauso zu. Erschwerend kam in diesem Fall hinzu, dass die gesetzliche Frist für die Novellierung der Psychotherapie-Richtlinie zum 30. Juni 2016 unbedingt gehalten werden sollte. Das hat die Möglichkeiten, einzelne Regelungsaspekte und Vorschläge der Kammern in der gebotenen Ausführlichkeit zu beraten, zusätzlich eingeschränkt.
Frage: Wie sehen Sie denn nun das Resultat: die Regelungen zur Sprechstunde? Wie werden sich diese auf den Arbeitsalltag der Kolleginnen und Kollegen in den Praxen auswirken?
Timo Harfst: Die Einführung der Sprechstunden kann die zukünftige Rolle der Psychotherapeuten in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich stärken. Abgewehrt wurden Bestrebungen anderer Akteure im Gesundheitswesen, die Sprechstunde nicht vorrangig bei den Psychotherapeuten zu verorten, sondern bei den Psychiatern und Psychosomatikern oder gar bei neu einzurichtenden Koordinierungsstellen, oder zusätzliche Strukturanforderungen zu stellen, die im Ergebnis dazu geführt hätten, dass Psychotherapeuten für ein Angebot von Sprechstunden Kooperationsverträge mit Hausärzten hätten abschließen müssen.
Die Regelungen führen dazu, dass für die Patienten der direkte Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung beibehalten bleibt und klarer strukturiert wird. Zudem gibt es zukünftig einen Auftrag an die Terminservicestellen der KVen, Patienten zeitnah in die Sprechstunden zu vermitteln. Damit verbindet sich die Erwartung, dass sich die Wartezeiten auf ein Erstgespräch und eine diagnostische Abklärung sich deutlich verkürzen. Patienten haben damit eine realistische Chance innerhalb von vier Wochen ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten zu erhalten. Vor dem Hintergrund der begrenzten Behandlungskapazitäten im Sinne einer Richtlinienpsychotherapie, werden viele Psychotherapeuten aber ggf. im Rahmen der Sprechstunde mehr Patienten sehen und bei diesen einen psychotherapeutischen Behandlungsbedarf feststellen, als sie selber behandeln können. Damit werden die Psychotherapeuten stärker mit der Frage konfrontiert, welches Versorgungsangebot bei welchem Leistungserbringer für einen Patienten am sinnvollsten und bei welchen Patienten die Behandlung am dringlichsten ist.
Allerdings bedeuten die Regelungen zur Sprechstunde auch keine Revolution für die ambulante psychotherapeutische Versorgung. Zwei Stunden pro Woche Sprechstunde als Mindestvorgabe sind nicht so weit von dem entfernt, was heute schon im Durchschnitt an Erstgesprächen und weiteren probatorischen Sitzungen für eine erste Indikationsstellung für den laufenden Betrieb einer psychotherapeutischen Praxis erforderlich ist. Zur Einordnung ein paar Zahlen: Pro Jahr beginnen etwa eine halbe Million Menschen eine psychotherapeutische Behandlung im Sinne einer Richtlinientherapie. 40 Prozent der Patienten, die eine probatorische Sitzung erhalten haben, nehmen anschließend keine Psychotherapie in Anspruch. Wenn man durchschnittlich 100 Minuten erforderliche Sprechstundenleistung pro Patient in Rechnung stellt, müssen im Grunde etwa 80 Prozent der Psychotherapeuten Sprechstunden in dem definierten Mindestumfang anbieten, damit der heutige Bedarf gedeckt wird.
Dennoch gehen auch wir davon aus, dass Psychotherapeuten noch stärker als heute in der Koordination der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gefordert sein werden und mit den Fragen konfrontiert werden, wer braucht was und wie dringend und wie können Wartezeiten auf eine Richtlinienpsychotherapie ggf. angemessen überbrückt werden.
Frage: Genau das sehen Kollegen aber kritisch. Sind sich Patienten im Klaren darüber, dass sie über die Sprechstunde schneller zu einer diagnostischen Abklärung kommen, aber nicht zum Therapieplatz? Und diese Botschaft sollen nun Psychotherapeuten nach der Sprechstunde überbringen?
Timo Harfst: Ich kann dieses Unbehagen sehr gut nachvollziehen. Aber ist es nicht noch viel problematischer, wenn Patienten erst gar keinen Termin beim Psychotherapeuten erhalten? Wenn sie mit ihren Anfragen für ein Erstgespräch immer wieder neu frustriert werden? Schließlich geben die Patienten auf und erhalten dann ggf. gar keine Versorgung. Durch eine Sprechstunde erhalten die Patienten zumindest zeitnah die relevanten Informationen über ihre Erkrankung und ihren Behandlungsbedarf und werden eher in die Lage versetzt sind, die nächsten Schritte zu tun. Zudem können Aspekte der Dringlichkeit der Behandlung auch systematischer berücksichtigt werden.
Schließlich bietet dies auch die Chance, dass der psychotherapeutische Behandlungsbedarf, der im System nicht erfüllt werden kann, besser beziffert werden kann. Dies könnte eine differenziertere Argumentation ermöglichen, wo zusätzliche Versorgungskapazitäten erforderlich sind. Das klassische Argument der angebotsinduzierten Nachfrage greift dann nicht mehr, da die Behandlungsindikation von Psychotherapeuten gestellt wird, die selbst die erforderliche Behandlung aus Kapazitätsgründen nicht anbieten können. Hier wären auch differenzierte Daten der Terminservicestellen wünschenswert, um die lokal bestehenden Defizite quantifizieren und auch in die Beratungen zur Reform der Bedarfsplanung einbringen zu können.
Frage: Wenn Sie in Gänze auf die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie sehen, sind diese aus Ihrer Sicht generell geeignet, um die Versorgungsprobleme zu lösen?
Timo Harfst: Für den Zugang zum Psychotherapeuten, die schnelle diagnostische Abklärung und Indikationsstellung würde ich das so einschätzen, dass es hier eine wichtige Verbesserung geben wird. Dabei wird die Bereitschaft der Psychotherapeuten, Sprechstunden in dem benötigten Umfang anzubieten, umso stärker gegeben sein, wenn diese Leistungen auch angemessen vergütet werden. Das Kapazitätsproblem wird man dadurch nicht allerdings nicht lösen können. Hier kann eher die Neureglung zur Obergrenze bei Jobsharing und Anstellung helfen, zusätzliche Behandlungskapazitäten entstehen zu lassen. Allerdings wir man an einer grundsätzlichen Reform der Bedarfsplanung kaum umhinkommen, dann vielleicht auf der Grundlage besserer Daten.