„Man kann sagen Kostenerstattung ist so etwas wie ein Überdruckventil.“Der Referent der Fortbildung Privatpraxen im Gespräch mit dem OPK Magazin

Werner GRoss
Referent und Dozent Werner Gross im Interview.

Frage: Wie ist diese versorgungspolitische Diskrepanz zwischen dem, was psychotherapeutische Versorgung leisten soll und dem, was sie aus ihrer Kapazität der Behandler heraus leisten kann, zu erklären? Hat die Existenz von Privatpraxen nicht genau darin ihre Berechtigung?

Werner Gross: Man kann sagen Kostenerstattung ist so etwas wie ein Überdruckventil.  Und zwar deshalb, weil es eine hohe Diskrepanz zwischen der theoretischen Bedarfsplanung und dem realen Bedarf gibt. Die Bedarfsplanung hat mit dem realen Bedarf nichts zu tun, weil man den Bedarf noch nie wirklich erfragt hat. Man ist stattdessen einfach davon ausgegangen, dass es 1999 mit dem Beginn der Psychotherapie als Heilberuf für PPs und KJPs eine Ausgangszahl an Therapeuten gegeben hat, mit denen Versorgung irgendwie funktioniert hat. Diese Zahl hat man dann fortgeschrieben. Das war der Geburtsfehler der Bedarfsplanung in der Psychotherapie, der sich jetzt 17, 18 Jahre fortgesetzt hat.

Sie vertreten die Ansicht, dass es die Kostenerstattung auch weiterhin geben wird. Woher nehmen Sie diese Sicherheit?

Werner Gross:  Wenn nicht mehr Psychotherapeuten in der Regelversorgung als Kassenbehandler zugelassen werden, dann wird es dieses Überdruckventil Kostenerstattung weiter geben müssen. Es gibt verschiedene Untersuchungen die beleuchten, dass, selbst wenn alle Psychotherapeuten mit Kassenzulassung  (inklusive der KJPler) ihre Praxis voll auslasten würden, könnten diese 600.000 Therapien pro Jahr durchführen. Nach verschiedenen Studien bräuchte es aber – wenn man sich ernsthaft an dem realen Bedarf orientieren würde – 2 – 5 Millionen Psychotherapieplätze. Wir haben also je nach Studie einen bis zu 8-fachen Grad der Unterversorgung. Deshalb sehe ich  die Notwendigkeit zur Kostenerstattung, wenn es nicht irgendwann ein anderes Überdruckventil geben sollte. Die verpflichtende Telefonzeit und die psychotherapeutische Sprechstunde (die oft von den anfragenden Patienten dann doch nicht wahr genommen wird) sind sicherlich ein solcher unglücklicher und kontraproduktiver Versuch, weil er bei den Kolleginnen und Kollegen eher PT-Kapazitäten bindet und sie deshalb im Extrem zwei Stunden Psychotherapie pro Woche weniger durchführen können. Meiner Einschätzung nach wird dieser Versuch nach in zwei, vielleicht drei Jahren wieder eingedampft werden – ähnlich wie seinerzeit die Praxisgebühr. Diese Entscheidungen werden ja leider fachfremd aus der Politik entschieden und haben mit der wirklichen Versorgung von Patienten aber überhaupt nichts zu tun. Das ist mehr oder weniger blinder politischer Aktionismus, um der Bevölkerung vorzugaukeln, wir tun was für euch.

Sehen Sie den großen, völlig freien Spielraum der Kassen in der Ausgestaltung der Kostenerstattung mit Sorge?

Werner Gross: Die Kostenerstattung ist für die gesetzlichen Krankenkassen ein ungeliebtes Kind, das sie selbst erzeugt haben und für das sie nun die Alimente zahlen müssen, weil sie sich gegen eine dem realen Bedarf entsprechende Anzahl von in der Regelversorgung zugelassenen Psychotherapeuten wehren. Wenn sie keine andere Lösung zulassen, werden die Kassen zähneknirschend die Kostenerstattung irgendwann doch wieder bezahlen müssen, weil es einfach diese reale Unterversorgung gibt. Oder sie werden – wie z.B. die Bahn-BKK – Sonderverträge mit einzelnen approbierten Psychotherapeuten machen.

Welches Fazit ziehen Sie aus den Reformen in der Psychotherapie gesamtpolitisch betrachtet?

Werner Gross: Ich erkenne darin ein absolutes Downgraden, ein Zurückstufen, der Psychotherapie in ihrer Bedeutung. Wir sind an einem Punkt, an dem wir sehr aufpassen müssen, dass man uns nicht in ganz alte Zeiten vor dem Psychotherapeutengesetz zurückschubst, wo wir als „Heilhilfspersonen“ in völliger Abhängigkeit von einem Arzt tätig waren.  Deswegen braucht es eine starke Berufspolitik, zu der wir die jungen Kollegen unbedingt bewegen müssen.

Privatpraxen, die sich allein auf die Kostenerstattung reduzieren, stehen in ihrer Existenz gegenwärtig auf recht wackligen Beinen. Wie sollten Praxen nach Ihrer Auffassung aufgestellt sein, um sich gerade in diesen kostenerstattungs-unsicheren Zeiten nicht zu abhängig zu machen?

Werner Gross: Es gibt zum Beispiel neben der klinischen Tätigkeit noch andere Kompetenzen, die man entwickeln kann. Ganz kurz nur der Gedanke, was könnte man z. B Unfallversicherungen anbieten? Da gibt es ein großes Marktpotential. Berufsgenossenschaften und private Unfallversicherungen sind oft offen für solche Angebote. Mitunter benötigt man dafür allerdings Zusatzqualifikationen. Außerdem sind nicht- oder semi-klinische Tätigkeitsfelder interessant, die gut auszubauen sind für ein neues Praxisfeld. Über den Tellerrand geschaut, gibt es die Rechtspsychologie, die Verkehrspsychologie oder die Wirtschaftspsychologie, die  auch einträgliche Tätigkeitsfelder sein können, wo man sich allerdings ebenfalls Zusatzqualifikationen aneignen sollte. Coaching, Supervision und Beratung sind ebenso gute und mitunter einträgliche Tätigkeitsbereiche. In Kooperation mit den Kassen oder auch einzelnen Firmen ist auch der gesamte Bereich der Gesundheitspsychologie zu nennen, in dem viele Kolleginnen und Kollegen tätig werden können, und, und, und…

Kostenerstattung ist bei weitem nicht alles und sollte in diesen Zeiten nicht das einzige, und auch nicht das wichtigste Standbein einer Privatpraxis sein. Ich glaube, dass eine Privatpraxis möglich ist, aber nicht an jedem Ort und nicht zu jeder Zeit. Bei dem Gedanken an eine Existenzgründung ist die Standortwahl zentral und ebenso die Einbindung in psychosoziale Netzwerke von potenziellen Zuweisern – im klinischen, wie im nicht-klinischen Bereich. Es ist also zu überlegen, wo die Patientengruppen der Privatversicherten, der Selbstzahler im ausreichenden Maß zu finden sind – und  wo Kostenerstattung derzeit überhaupt möglich ist.  Im Moment gibt es Regionen, da ist überhaupt keine Kostenerstattung möglich. In anderen läuft es weiterhin gut.

Sollte unternehmerisches Denken verstärkt zu einem viel früheren Zeitpunkt – wie zum Beispiel direkt in die Psychotherapeutenausbildung – einfließen, um das Wunschdenken nach einem Praxissitz mit der Realität des Gesundheitssystems abzugleichen? Viele der neuen Kollegen werden keine Chance auf einen Praxissitz haben, sich mit einer Anstellung nicht anfreunden können und Alternativen brauchen.

Werner Gross: Ich mache diese Existenzgründungs-Seminare für eine Reihe von Ausbildungsinstituten. Dadurch werden die Teilnehmer auf dieses Themenfeld etwas früher sensibilisiert. Die Ausbildungsinstitute kämen allerdings mit „diesen Wahrheiten“ in ihrem Anspruch ins Trudeln, wenn sie den Ausbildungsteilnehmern sagen würden, „du hast wenig Aussicht, einen Kassensitz zu bekommen“. Das ist, was man in der Psychotherapie ein „double bind“ nennt: Du hast keine Chance, aber nutze sie! Die Frage, wie viele Kassensitze es zukünftig geben wird, liegt leider nicht in unseren Händen, sondern wird in ganz anderen (berufs-)politischen Gremien entschieden.

Was sehen Sie als die gegenwärtigen Herausforderungen an einen Psychotherapeuten, eine Privatpraxis zu eröffnen?

Werner Gross: Das wichtigste ist, Marktfähigkeit zu entwickeln. Sich in die Lage zu versetzen, sich auf einem Markt – in diesem Fall dem Gesundheitsmarkt – zu bewegen. In gewisser Weise läuft das der aktuellen Grundhaltung im Gesundheitssystem entgegen. Die Patienten sagen: „ Ich bezahle so viel als Mitgliedsbeitrag meiner Krankenkasse für diese Chipkarte, da versuche ich sie auszunutzen, wo ich sie nur ausnutzen kann“.  Ich nenne das die „Chipkartenmentalität“. Marktfähigkeit für PTs heißt im Grunde nicht nur zu gucken, wo bekomme ich einen Kostenträger für meine Leistung her, sondern heraus zu finden, wofür sind Menschen bereit, für meine Leistung persönlich etwas aus eigener Tasche zu bezahlen. Das ist eine Veränderung der psychischen Verfassung, der Mentalität in der Bevölkerung. Dieses Brett zu bohren, ist sehr dick und wird seine Zeit brauchen.

Andererseits – um nicht alles schwarz in schwarz zu malen: Wir haben wahrscheinlich weltweit das beste psychotherapeutische Versorgungssystem, was auch noch im Vergleich sehr sozial ist. Nirgendwo sonst sind Psychologische Psychotherapeuten zumindest juristisch den Ärzten gleichgestellt, obwohl wir faktisch immer noch am Katzentisch sitzen. Das muss man sich immer mal wieder vor Augen halten. Im Grunde jammern wir also auf einem hohen Niveau.